SIE BEI UNS EINGEKAUFT HABEN!
»Wo hätte ich denn sonst hinfahren sollen, du alter Sack?«, fragte er. Er beschloss, sich ein Bier zu gönnen, ehe er zurück zu der Frau aufbrach. Dann hatte er auch nicht mehr so viel zu tragen.
Pete angelte sich eins aus der Tüte, machte es auf und goss sich die halbe Flasche mit vier Schluck in den Hals. Es war kalt, und der Schnee, auf dem er saß, war noch kälter, aber trotzdem tat es ihm gut. Das war die Magie des Bieres. Es war auch die Magie von Scotch, Wodka und Gin, aber wenn es um Alkohol ging, war er wie Tom T. Hall: Er trank gern Bier.
Als er so die Tüte betrachtete, fiel ihm wieder der Junge mit den karottenfarbenen Haaren im Laden ein - das verwunderte Lächeln, die Schlitzaugen, die solchen Menschen ursprünglich die Bezeichnung Mongoloide eingetragen hatten. Das brachte ihn wieder auf Duddits, auf Douglas Ca-veil, wenn's denn formell sein sollte. Warum er in letzter Zeit so oft an Duds hatte denken müssen, wusste Pete nicht zu sagen, aber er hatte oft an ihn gedacht und nahm sich nun selbst ein Versprechen ab: Wenn das hier alles vorüber war, würde er in Derry vorbeifahren und den alten Duddits besuchen. Er würde die anderen bitten mitzukommen, und irgendwie hatte er so das Gefühl, dass er sie nicht groß würde überreden müssen. Duddits war wahrscheinlich der Grund dafür, dass sie nach so vielen Jahren immer noch befreundet waren. Mann, die meisten Leute dachten nicht mal mehr an ihre Freunde aus der College- oder High-School-Zeit, von ihren Kumpeln von der Junior High School mal ganz zu schweigen. Middle School nannte man sie heute, was aber, da hatte Pete nicht den mindesten Zweifel, genauso ein düsterer Dschungel aus Schüchternheit, Verwirrung, muffelnden Achselhöhlen, blödsinnigen Ticks und halbgaren Ideen war. Sie kannten Duddits natürlich nicht aus der Schule, denn Duddits ging nicht auf die Derry Junior High. Duds ging auf die Mary-M.-Snowe-Sonderschule, die bei den Kindern in der Nachbarschaft auch Behindi-Akademie genannt wurde oder schlicht und einfach Dummschule. Unter normalen Umständen hätten sich ihre Wege nie gekreuzt, aber es gab da diese Brache an der Kansas Street und das leer stehende Ziegelsteingebäude davor. Von der Straße aus konnte man immer noch in verblichener weißer Farbe Spedition & Lagerhaus gebr. TRACKER auf den alten roten Ziegeln lesen. Und auf der anderen Seite, an der großen Rampe, wo früher die Laster entladen wurden ... da stand etwas anderes geschrieben.
Jetzt, da er im Schnee hockte und nicht mehr spürte, wie er unter seinem Hintern zu kaltem Schneematsch schmolz, und er sein zweites Bier trank, ohne sich überhaupt daran erinnern zu können, es aufgemacht zu haben (das erste leere atte er in den Wald geworfen, wo er immer noch Tiere nach Osten wandern sah), erinnerte sich Pete an den Tag, an dem sie Duds kennen gelernt hatten. Er erinnerte sich an Bibers blöde Jacke, die der Biber damals so geliebt hatte, und an Bibers Stimme, so dünn, aber doch auch so kräftig, wie sie das Ende von etwas und den Anfang von etwas anderem verkündet hatte, wie sie auf eine unfassbare, dennoch aber ganz reale und wahrnehmbare Weise verkündet hatte, dass sich der Lauf ihres ganzen Lebens an einem Dienstagnachmittag änderte, als sie lediglich vorhatten, bei Jonesy in der Auffahrt ein wenig Zwei-gegen-zwei und anschließend vor dem Fernseher dann vielleicht etwas Parcheesi zu spielen; jetzt, da er hier im Wald neben dem umgestürzten Scout saß und immer noch das Parfüm roch, das Henry gar nicht getragen hatte, und das beglückende Gift seines Lebens trank, erinnerte sich der Autoverkäufer an den Jungen, der seinen Traum, Astronaut zu werden, noch nicht aufgegeben hatte, obwohl ihm Mathe zusehends schwer fiel (Jonesy hatte ihm geholfen, und dann hatte Henry ihm geholfen, und dann, in der zehnten Klasse, war ihm nicht mehr zu helfen gewesen), und er erinnerte sich auch an die anderen Jungen und vor allem an den Biber, der mit einem kieksigen Schrei seiner Stimmbruchstimme die ganze Welt auf den Kopf gestellt hatte: He, ihr da! Lasst das! Hört sofort auf damit!
»Biber«, sagte Pete und brachte im trüben Nachmittagslicht einen Toast auf ihn aus, mit dem Rücken an die Karosserie des umgestürzten Scout gelehnt. »Du warst wunderbar, Mann.« Aber waren sie das nicht alle?
Waren sie nicht alle wunderbar gewesen?
Weil er in die achte Klasse geht und in der letzten Stunde Musik im Erdgeschoss hat, ist Pete immer schon vor seinen drei besten Freunden draußen, die ihre letzte Stunde immer im ersten Stock haben: Jonesy und Henry haben Amerikanische Literatur, also Lesen für Schlaue, und Biber nebenan Mathe fürs Leben, also eigentlich Mathe für Dumme. Pete sträubt sich noch mächtig dagegen, das im nächsten Jahr belegen zu müssen, aber diesen Kampf wird er wohl verlieren. Er kann addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren und er beherrscht auch die Brüche, obwohl er viel zu lange dafür braucht. Aber jetzt gibt es da etwas Neues, jetzt gibt es da das X. Pete versteht das X nicht, und es macht ihm Angst.
Er steht draußen vorm Tor am Maschendrahtzaun, während die übrigen Achtklässler und die kindischen Siebtkläss-Ier vorbeiströmen, steht da, kickt nach etwas und tut so, als würde er rauchen, eine Hand vorm Mund gewölbt und die andere darunter verborgen - und die verborgene Hand ist die mit der fiktiven versteckten Kippe.
Und jetzt kommen da die Neuntklässler aus dem ersten Stock, und wie eine königliche Familie - ja, fast wie ungekrönte Könige, obwohl Pete so etwas Schwiemeliges natürlich nie aussprechen würde - kommen da auch seine Freunde Jonesy, Biber und Henry. Und wenn es denn einen König der Könige gibt, dann ist es Henry, für den alle Mädchen schwärmen, und das, obwohl er Brillenträger ist. Pete kann sich glücklich schätzen, solche Freunde zu haben, und das ist ihm bewusst - er ist wahrscheinlich der glücklichste Achtklässler von ganz Derry - X hin oder her. Und das hat kaum etwas damit zu tun, dass er mit Freunden aus der neunten Klasse von keinem harten Kerl aus der Achten verdroschen wird.
»Hey, Pete!«, sagt Henry, als die drei durch das Schultor geschlendert kommen. Wie stets wirkt Henry überrascht, ihn dort zu sehen, aber auch äußerst erfreut. »Was läuft denn so, Mann?«
»Nicht viel«, antwortet Pete wie stets. »Und bei euch?«
SÄT«, sa§ 1Henry, nimmt seine Brille ab und fängt an,zu Putzen. Hätten sie einen Club gegründet, dann wäre
SSAT wahrscheinlich ihr Motto gewesen; sie brachten es schließlich sogar Duddits bei - bei ihm hörte es sich wie Sähe Scheise, anner Tah an, und es ist eines der wenigen Dinge, die Duddits sagt, die seine Eltern nicht verstehen können. Und das ist für Pete und seine Freunde natürlich ein Heidenvergnügen.
Jetzt aber, da ihnen Duddits erst in einer halben Stunde bevorsteht, wiederholt Pete einfach nur, was Henry gesagt hat: »Ja, Mann. SSAT.«
Selbe Scheiße, anderer Tag. Nur dass die Jungs im Grunde ihres Herzens nur die erste Hälfte davon glauben, denn im Grunde ihres Herzens glauben sie, dass es, Tag für Tag, immer derselbe Tag ist. Wir sind in Derry, im Jahre 1978, und es wird immer 1978 sein. Sie sagen, es werde eine Zukunft geben und sie würden das 21. Jahrhundert erleben - Henry wird Anwalt sein und Jonesy Schriftsteller, Biber wird einen Sattelzug fahren und Pete Astronaut sein mit dem NASA-Emblem auf dem Oberarm - aber das sagen sie bloß, wie sie auch in der Kirche das Glaubensbekenntnis mitsprechen, ohne recht zu wissen, was da aus ihrem Munde kommt; und in Wirklichkeit sind sie eher an Maureen Chessmans Rock interessiert, der überhaupt schon ziemlich kurz ist und ihr noch weiter die Schenkel hinaufrutschen wird. Im Grunde ihres Herzens glauben sie, dass Maureens Rock eines Tages so weit hochrutschen wird, dass sie ihren Schlüpfer sehen können, und genauso glauben sie, dass Derry so ewig ist wie sie selbst. Sie werden immer in die Junior High School gehen, und es wird immer Viertel vor drei sein, und sie werden immer gemeinsam die Kansas Street entlanggehen, um bei Jonesy in der Auffahrt Basketball zu spielen (Pete hat bei sich vor der Garage auch einen Korb, aber Jonesys gefällt ihnen besser, weil sein Vater ihn so niedrig angebracht hat, dass man dünken kann) und um sich ewig über die gleichen Themen zu unterhalten, über den Unterricht und die Lehrer und darüber, welcher Junge sich mit welchem angelegt hat und welcher sich mit welchem erst noch anlegen wird und ob Soundso den Soundso denn überhaupt plattmachen könnte, wenn er sich mit ihm anlegen würde (nur dass sie sich nie miteinander anlegen werden, denn Soundso und Soundso sind befreundet), wer in letzter Zeit was Krasses gebracht hat (dieses Jahr bisher ihr Favorit: der Siebtklässler Norm Par-meleau, jetzt auch Makkaroni-Parmeleau genannt, ein Spitzname, der jahrelang an ihm kleben wird, noch bis ins nächste Jahrhundert, über das diese Jungs zwar reden, an das sie im Grunde ihres Herzens aber nicht glauben; bei einer Wette um fünfzig Cents hatte sich Norm Parmeleau eines Tages in der Mensa beide Nasenlöcher mit Käse-Makkaroni zugestopft, sie dann wie Rotze hochgezogen und schließlich gegessen; Makkaroni-Parmeleau, der, wie so viele Jungs auf der Junior High School, traurige mit wahrer Berühmtheit verwechselt hatte), wer mit wem geht (wenn ein Typ und ein Mädchen gesehen werden, wie sie nach der Schule zusammen nach Hause gehen, nimmt man an, dass sie wahrscheinlich miteinander gehen; wenn man sie Händchen halten oder knutschen sieht, gibt's da nichts mehr zu deuteln) und wer das Superbowl gewinnen wird (die Patriots! die Boston Patriotsi, aber die gewinnen nie; Fan der Patriots sein zu müssen, ist schon echt scheiße). Es sind immer die gleichen Themen, und doch sind sie unerschöpflich faszinierend, während sie alle gemeinsam von derselben Schule (Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen) dieselbe Straße (den Schöpfer des Himmels und der Erde) unter dem ewig gleichen weißen Oktoberhimmel (... und das ewige Leben) und mit denselben Freunden nach Hause gehen (Amen). Selbe Scheiße, selber I ag, das glauben sie im Grunde ihres Herzens, und da sind sie sich einig mit K. C. and the Sunshine Band, obwohl sie alle sagen würden: RR-DS (Rock regiert! Disco? Scheiße!): that's the way - aha, aha - they like it ... Der Wandel, die eränderung wird plötzlich und unerwartet kommen, wie das bei Kindern in ihrem Alter immer so ist; brauchten Veränderungen die Zustimmung von Junior-High-School-Schülern, dann würde sich nie etwas ändern.
Читать дальше