Der Gedanke, Owen könne Jonesy/Mr. Gray einholen, löste bei Kurtz panisches Entsetzen aus. »Archie, hören Sie mir jetzt genau zu.«
»Ich habe Durst«, jammerte Perlmutter. »Ich habe Durst, Sie Schwein.«
Kurtz hielt Perlmutter die Pepsiflasche direkt vors Gesicht und schlug Perlmutters Hand weg, als Pearly danach greifen wollte.
»Wissen Henry, Owen und Dud-Duts, dass Jonesy und Mr. Gray angehalten haben?«
»Dud-dits, Sie alter Idiot!«, knurrte Perlmutter, stöhnte
dann vor Schmerz auf und hielt sich den Bauch, der sich wieder blähte. »Dits, dits, Dud-dits! Ja, das wissen sie! Duddits hat mitgeholfen, Mr. Gray hungrig zu machen! Jonesy und er haben das gemeinsam getan!«
»Das gefällt mir nicht«, sagte Freddy.
Willkommen im Club, dachte Kurtz.
»Bitte, Boss«, sagte Pearly. »Ich bin so durstig.«
Kurtz gab ihm die Flasche und sah mit scheelem Blick zu, wie Perlmutter sie leerte.
»Der 495, Boss«, verkündete Freddy. »Was soll ich tun?«
»Nehmen Sie den«, sagte Perlmutter. »Und dann den 90 nach Westen.« Er rülpste. Es war laut, aber zum Glück geruchlos. »Es will noch eine Pepsi. Es mag den Zucker. Und auch das Koffein.«
Kurtz grübelte. Owen wusste, dass seine Zielperson gestoppt hatte. Jetzt würden Owen und Flenry schnell machen und versuchen, so viel wie möglich von seinen neunzig bis hundert Minuten Vorsprung einzuholen. Dementsprechend mussten auch sie sich sputen.
Polizisten, die sich ihnen in den Weg stellten, würden sterben müssen, Gott stehe ihnen bei. So oder so - die Entscheidung rückte näher.
»Freddy.«
»Boss.«
»Bleifuß. Die Kiste soll mal zeigen, was sie drauf hat. Gott ist mit Ihnen.«
Freddy Johnson tat wie befohlen.
20
Hier gab es keinen Stall, keinen Pferch, keine Koppel, und statt des Aufdrucks Jagdscheine prangte auf dem Schild im Schaufenster ein Foto des Quabbin-Stausees und der Werbeslogan die besten köder WEIT und BREIT, aber ansonsten war der kleine Laden genau wie Gosselin's: die gleiche schäbige Holzverschalung, die gleichen schlammbraunen Dachschindeln, der gleiche schiefe Schornstein, der Rauch in den verregneten Himmel hustete, die gleiche rostige Zapfsäule draußen vorm Haus. An der Zapfsäule lehnte auch ein Schild, diesmal mit dem Aufdruck: kein benzin - beschweren SIE SICH BEI DEN MUFTIS.
An diesem Mittag im November hielt sich nur der Inhaber im Laden auf, ein Mann namens Deke McCaskell. Wie die meisten Leute hatte er den ganzen Vormittag vor dem Fernseher gehangen, die Berichterstattung verfolgt (es waren größtenteils Wiederholungen, und da jener Teil von Maine abgeriegelt war, kamen auch keine guten Bilder von dort, und man bekam hauptsächlich die Ausrüstung der Armee, Marine und Luftwaffe zu sehen) und dann anschließend die Ansprache des Präsidenten. Deke nannte den Präsidenten Mr. Wahldebakel. Konnten die denn da unten nicht zählen? Deke hatte von seinem Wahlrecht zum letzten Mal Gebrauch gemacht, um für Ronnie zu stimmen (das war doch noch mal ein Präsident gewesen), und hasste Präsident Wahldebakel, sah in ihm einen schleimigen, unglaubwürdigen Schwätzer (der eine hübsche Frau hatte) und hielt die Elf-Uhr-Ansprache des Präsidenten für das übliche Blah-blah-blah. Deke glaubte kein Wort davon, was der Präsident gesagt hatte. Seiner Ansicht nach war die ganze Sache wahrscheinlich ein Betrug, der die amerikanischen Steuerzahler einschüchtern sollte, damit sie zuließen, dass der Verteidigungsetat und damit die Steuern stiegen. Es gab da draußen im Weltall niemanden, das war wissenschaftlich erwiesen. Und die einzigen wirklich fremden Wesen in Amerika (von diesem Präsidenten natürlich mal abgesehen) waren die Bohnenfresser, die über die Grenze aus Mexiko kamen. Aber die Leute hatten Angst und hockten zu Hause vor der Glotze. Später würden sie kommen und Bier oder Wein kaufen, aber im Moment war mit dem Laden so viel los wie mit einer überfahrenen Katze auf dem Highway.
Deke hatte den Fernseher eine halbe Stunde zuvor abgestellt - es reichte ihm nun wirklich, gütiger Gott -, und als um viertel nach eins die Klingel über seiner Tür schellte, blätterte er eben eine Zeitschrift aus dem Regal ganz hinten in seinem Laden durch. Sie hatte den Titel Mädels unter Glas, was sehr treffend war, da alle abgebildeten Mädels eine Brille trugen, sonst aber nichts.
Er sah zu dem Hereinkommenden hoch und wollte eben »Wie geht's?« oder »Ist schon tüchtig glatt« sagen, schwieg dann aber. Ihm war plötzlich beklommen zu Mute, und er war sich mit einem Mal sicher, dass er ausgeraubt werden sollte ... und noch von Glück sagen konnte, wenn es nur bei einem Raub blieb. Er war in den zwölf Jahren, die er den Laden schon hatte, nie ausgeraubt worden; wenn jemand für eine Hand voll Kleingeld Knast riskieren wollte, gab es in der Gegend Läden, wo mehr zu holen war. Da musste man doch schon ...
Deke schluckte. Da musste man doch schon verrückt sein, hatte er gedacht, und vielleicht war dieser Typ ja verrückt, vielleicht war er ja so ein Wahnsinniger, der eben seine Frau und seine Kinder umgebracht hatte und jetzt noch ein paar Leute umnieten wollte, ehe er die Waffe gegen sich selbst richtete.
Deke war nicht von Haus aus paranoid (er hatte eher von Haus aus zwei linke Hände, hätte seine Exfrau gesagt), aber dennoch fühlte er sich plötzlich von diesem ersten Kunden des Nachmittags bedroht. Er konnte die Kerle eigentlich nicht besonders ausstehen, die hier manchmal auftauchten und im Laden rumlatschten, über die Patriots oder die Red Sox redeten oder damit angaben, was für Riesenklopper sie im Stausee gefangen hatten, aber jetzt wünschte er sich einen von denen herbei, nein, eine ganze Bande.
Der Mann stand zunächst einfach nur im Eingang, und, ja, irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er trug eine orangefarbene Jagdjacke, obwohl hier in Massachusetts die Jagd-saison für Hirsche noch gar nicht begonnen hatte, aber das musste ja nichts bedeuten. Dann hatte er aber auch noch Kratzer im Gesicht, als wäre er die letzten paar Tage querfeldein durch den Wald gewandert, und er wirkte überhaupt gequält und ausgelaugt. Sein Mund bewegte sich, als würde er mit sich selber sprechen. Und da war noch etwas. Das graue Mittagslicht, das durch das staubige Schaufenster fiel, zeigte ein komisches Glitzern auf seinen Lippen und seinem Kinn.
Der sabbert, dachte Deke. Ich will verdammt sein, wenn der nicht sabbert,
Der Neuankömmling schaute sich mit knappen, zackigen Kopfbewegungen um, wobei sein restlicher Körper vollkommen reglos blieb. Das erinnerte Deke an eine Eule, die auf einem Ast Ausschau nach Beute hielt. Deke überlegte kurz, von seinem Stuhl zu rutschen und sich unterm Ladentresen zu verstecken, aber ehe er dazu kam, die Vor- und Nachteile abzuwägen (er war nicht besonders schnell im Kopf, hätte seine Exfrau gesagt), machte der Mann wieder eine zackige Kopfbewegung und sah jetzt genau in seine Richtung.
Der vernünftige Teil von Dekes Hirn hatte gehofft, er würde sich das alles nur einbilden und seine Fantasie sei einfach nur den ganzen merkwürdigen Nachrichten und noch merkwürdigeren, getreulich von den Medien weiterverbreiteten Gerüchten aus Nord-Maine erlegen. Vielleicht wollte der Mann einfach nur Zigaretten oder ein Sixpack oder eine Flasche Coffee Brandy und ein scharfes Magazin, um sich eine lange Nacht in einem Motel außerhalb von Ware oder Belchertown etwas angenehmer zu gestalten, während es draußen schneite und regnete.
Diese Hoffnung erstarb, als er den Blick des Mannes sah.
Es war nicht der Blick eines Wahnsinnigen, der eben seine Familie abgeschlachtet hatte und nun auf dem Trip ins Nirgendwo war; das wäre ihm nun sogar fast lieber gewesen. Der Blick des Mannes war nämlich alles andere als leer - er
war gewissermaßen zu voll. Millionen Gedanken und Ideen schienen darin zu schwirren. Es wirkte wie eine Konfettiparade im Zeitraffer. Seine Augen schienen förmlich zu beben.
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