»Jonesy ist Ihr Problem, Mr. Underhill. Gary Jones aus Brookline, Massachusetts.«
»Kurtz ist auch ein Problem.« Underhill sprach zu leise, als dass man ihn in dem heulenden Wind hätte hören können, aber Henry hörte ihn trotzdem - hörte ihn in seinen Gedanken.
Underhill sah sich um. Henry folgte seiner Kopfbewegung und sah ein paar Männer die improvisierte Gasse zwischen den Caravans und Wohncontainern auf und ab laufen. Aber niemand war in der Nähe. Doch das gesamte Areal um den Laden und den Stall herum war gnadenlos hell erleuchtet, und trotz des Sturms konnte er aufheulende Motoren hören, das stotternde Dröhnen von Generatoren und brüllende Männer. Jemand erteilte mit einem Megafon Befehle. Insgesamt wirkte das Ganze unheimlich, als hielte der Sturm die beiden an einem Ort gefangen, wo es von Gespenstern nur so wimmelte. Und die herumlaufenden Männer sahen sogar wie Gespenster aus, wenn sie in den wirbelnden Schneewänden verschwanden.
»Wir können hier nicht reden«, sagte Underhill. »Hören Sie zu, und lassen Sie mich das nicht zweimal sagen, Bursche.«
Und in Henrys Kopf, der jetzt so viel aufnehmen musste, dass das meiste davon zu einem unverständlichen Brei vermengt wurde, leuchtete plötzlich ein Gedanke aus Owen Underhills Gehirn ganz deutlich auf: Bursche. Sein Wort. Ich kann nicht glauben, dass ich sein Wort gebraucht habe.
»Ich bin ganz Ohr«, sagte Henry.
Der Schuppen stand am anderen Ende des Lagers, weitab vom Stall. Er war zwar von außen ebenso strahlend hell erleuchtet wie der Rest dieses höllischen Konzentrationslagers, innen aber war es düster und roch es süßlich nach altem Heu. Und nach noch etwas anderem.
Vier Männer und eine Frau saßen mit dem Rücken an der hinteren Mauer des Schuppens. Sie alle trugen orangefarbene Jagdkluft und reichten einen Joint herum. Es gab im Schuppen nur zwei Fenster, eines auf den Pferch und eines, von dem aus man die Umzäunung und den Wald dahinter sah. Die Fensterscheiben waren schmutzig und milderten das gnadenlos grelle, weiße Licht der Natrium-Scheinwerfer ein wenig. In dem Dämmerlicht sahen die Gesichter der kiffenden Internierten grau und tot aus.
»Willst du mal ziehn?«, fragte der mit dem Joint. Er sprach angespannt und kurz angebunden und behielt dabei den Rauch in der Lunge; trotzdem hielt er Henry aber bereitwillig den Joint hin. Es war ein Monster von einer Tüte, bemerkte Henry, so groß wie eine Cohiba.
»Nein. Ich will, dass ihr alle hier verschwindet.«
Sie sahen ihn verständnislos an. Die Frau war mit dem Mann verheiratet, der gerade den Joint hielt. Der Typ links neben ihr war ihr Schwager. Die anderen beiden waren nicht mit ihnen verwandt.
»Geht wieder in den Stall«, sagte Henry.
»Kommt nicht in Frage«, sagte einer der anderen Männer. »Da ist es zu voll. Wir sind lieber unter uns. Und da wir zuerst hier waren, solltest du doch wohl die Biege machen, wenn dir nicht nach Geselligkeit ist -«
»Ich habe es«, sagte Henry. Er legte eine Hand auf das T— Shirt, das er sich ums Bein gebunden hatte. »Byrus. Was die hier Ripley nennen. Einige von euch haben es auch ... Ich glaube, du hast es, Charles —« Er wies auf den fünften Mann, der eine Halbglatze hatte und eine dicke Daunenjacke trug.
»Nein!«, schrie Charles, aber die anderen rückten schon von ihm ab, und der mit der kambodschanischen Zigarre (er hieß Darren Chiles und kam aus Newton, Massachusetts) achtete dabei noch darauf, den Rauch nicht vorschnell auszuatmen.
»Doch, du hast es«, sagte Henry. »Und zwar richtig heftig. Und du auch, Mona. Mona? Nein, Marsha. Marsha heißt du.«
»Ich habe es nicht!«, sagte sie. Sie stand auf, drückte sich mit dem Rücken an der Schuppenmauer entlang und sah Henry mit großen, verängstigten Augen an. Rehaugen. Bald würden alle Rehe hier tot sein, und auch Marsha würde tot sein. Henry hoffte, dass sie seinen Gedanken nicht lesen konnte. »Ich bin clean, Mister, wir hier drin sind alle clean, bis auf Sie!«
Sie sah zu ihrem Gatten hinüber, der nicht kräftig war, aber doch kräftiger als Henry. Das waren sie eigentlich alle. Vielleicht nicht unbedingt größer, aber kräftiger.
»Schmeiß ihn raus, Dare.«
»Es gibt zwei Typen von Ripley«, sagte Henry und stellte als Tatsache hin, was seine Privatmeinung war ... aber je länger er darüber nachdachte, desto plausibler kam es ihm vor. »Nennen wir sie Primär-Ripley und Sekundär-Ripley. Ich bin mir ziemlich sicher: wenn ihr keine massive Dosis abbekommen habt, wenn ihr es nicht geschluckt oder eingeatmet oder auf eine offene Wunde bekommen habt, dann könnt ihr auch wieder gesund werden. Ihr könnt es überstehen. «
Jetzt sahen sie ihn alle mit großen Rehaugen an, und Henry verspürte kurz eine unvergleichliche Verzweiflung. Wieso hatte er sich nicht einfach in aller Ruhe das Leben nehmen können?
»Ich habe Primär-Ripley«, sagte er. Er band das T-Shirt auf. Keiner von ihnen wagte mehr als einen flüchtigen Blick auf den Riss in Henrys vor Schnee starrenden Jeans zu werfen, aber Henry schaute stellvertretend für sie ganz genau hin. Die Wunde, die der Blinkerhebel gerissen hatte, war nun mit Byrus zugewachsen. Manche Fasern waren fünf Zentimeter lang, und ihre Spitzen wogten wie Seetang in der Dünung. Er spürte, wie sich die Wurzeln beständig weiter vorarbeiteten, tiefer und immer tiefer, juckend und schäumend und sprudelnd. Und zu denken versuchten. Das war das Allerschlimmste: Es versuchte zu denken.
Jetzt wichen sie in Richtung Schuppentür zurück, und Henry rechnete damit, dass sie Reißaus nehmen würden, stattdessen blieben sie stehen.
»Können Sie uns helfen, Mister?«, fragte Marsha mit bebender Kleinmädchenstimme. Darren, ihr Mann, legte ihr einen Arm um die Schultern.
»Ich weiß es nicht«, sagte Henry. »Wahrscheinlich nicht... aber vielleicht doch. Geht jetzt. Ich bin hier in einer halben Stunde wieder raus, vielleicht auch schon früher, aber ihr bleibt wohl am besten im Stall bei den anderen.«
»Und wieso?«, fragte Darren Chiles aus Newton.
Und Henry, der da nur eine vage Idee hatte, nichts, was einen Plan auch nur ähnelte, sagte: »Ich weiß es nicht. Das ist einfach meine Meinung.«
Sie gingen hinaus und überließen Henry den Schuppen.
6
Unter dem Fenster, das zur Umzäunung hinaus ging, lag ein alter Heuballen. Darren Chiles hatte darauf gesessen, als Henry hereingekommen war (als der mit dem Dope hatte Chiles ein Anrecht auf den bequemsten Platz gehabt), und jetzt ließ sich Henry darauf nieder. Er saß da mit den Händen auf den Knien und wurde augenblicklich schläfrig, trotz der vielen Stimmen, die in seinem Kopf herumschwirrten, und trotz des tiefen, sich immer weiter ausdehnenden Juckens in seinem linken Bein (es ging auch in seinem Mund los, in einer seiner Zahnlücken).
Er hörte Underhill kommen, ehe Underhill draußen vor dem Fenster etwas sagte, hörte, wie sich seine Gedanken näherten.
»Ich bin auf der vom Wind abgewandten Seite und größtenteils im Schatten des Gebäudes«, sagte Underhill. »Ich rauche hier eine. Wenn jemand vorbeikommt, sind Sie nicht da drin.«
»Verstanden.«
»Wenn Sie mich anlügen, gehe ich weg, und Sie werden mich für den kurzen Rest Ihres Lebens nicht mehr sprechen, weder laut noch ... sonst irgendwie.«
»Klar.«
»Wie sind Sie denn die Leute da drinnen losgeworden?«
»Wie?« Henry hätte gedacht, er sei zu kaputt, um noch wütend werden zu können, aber dem war anscheinend nicht so. »War das irgendwie ein Test oder was?«
»Stellen Sie sich doch nicht dumm.«
»Ich habe ihnen gesagt, dass ich Primär-Ripley habe, und das stimmt ja auch. Da sind sie schnell verduftet.« Henry hielt inne. »Sie haben es auch, nicht wahr?«
»Wie kommen Sie darauf?« Henry konnte in Underhills Stimme keinerlei Anspannung hören, und als Psychiater war er vertraut mit den Anzeichen dafür. Was er auch sonst noch sein mochte, Henry hatte so das Gefühl, dass Underhill ein äußerst kühl denkender Verstandesmensch war, und das war doch schon mal ein Schritt in die richtige Richtung. Und außerdem, dachte er, kann es nicht schaden, wenn er weiß, dass er wirklich nichts zu vertieren hat.
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