Für mich hat es das alles nie gegeben. Ach, ich musste mich sogar ständig bemühen, es zu vermeiden. Und das, liebe Freunde, ist leichter gesagt als getan, selbst für einen unbedeutenden Hilfsgeistlichen irgendwo auf dem Lande, weit entfernt von den Fleischtöpfen der Metropole.
Meine Gemeinde, müssen Sie wissen, enthielt eine erstaunlich große Anzahl von Damen. Es gab ihrer eine Unmenge im Kirchspiel, und das Schlimme war, dass die meisten – mindestens sechzig Prozent – alte Jungfern waren, mithin also gänzlich ungebändigt von dem wohltätigen Einfluss der heiligen Ehe. Behände wie ein Eichhörnchen musste ich sein, sage ich Ihnen.
Man sollte meinen, dass ich bei der sorgfältigen Erziehung, die meine Mutter mir angedeihen ließ, ohne weiteres mit solchen Dingen hätte fertig werden können, und zweifellos wäre das auch der Fall gewesen, wenn sie nur lange genug gelebt hätte, um meine Erziehung zu vollenden. Doch leider wurde sie mir entrissen, als ich noch sehr jung war.
Sie war eine wunderbare Frau, meine Mutter. An den Handgelenken pflegte sie breite Armbänder zu tragen, immer fünf oder sechs auf einmal, Armbänder, an denen alles Mögliche hing und die bei jeder Bewegung klirrten und klingelten. Wo sie auch sein mochte, man konnte sie immer finden, indem man diesem melodischen Geräusch nachging. Besser als Kuhglocken war das. Abends hockte sie in ihren schwarzen Hosen im Türkensitz auf dem Sofa und rauchte ungezählte Zigaretten aus einer langen schwarzen Spitze. Ich kauerte auf dem Boden und beobachtete sie.
«Willst du meinen Martini kosten, George?», fragte sie mich oft.
«Sei vorsichtig, Clare», mahnte dann mein Vater. «Wenn du dem Jungen dauernd Alkohol gibst, hört er auf zu wachsen.»
«Los», sagte sie. «Hab keine Angst. Trink nur.»
Ich gehorchte meiner Mutter stets aufs Wort.
«Nicht so viel», sagte mein Vater. «Ein Schlückchen genügt, damit er weiß, wie es schmeckt.»
«Misch dich nicht ein, Boris. Dies ist sehr wichtig.»
Meine Mutter vertrat die Theorie, man dürfe vor einem Kind nichts in der Welt geheim halten. Zeige ihm alles. Lass ihn seine Erfahrungen machen.
«Ich will nicht, dass mein Sohn mit anderen Kindern über schmutzige Geheimnisse flüstert und an diesen oder jenen Fragen herumrätselt, nur weil ihm niemand die Wahrheit sagt.»
Sage ihm alles. Lass ihn zuhören.
«Komm her, George, ich will dir erzählen, was man von Gott wissen muss.»
Abends, bevor ich zu Bett ging, las sie mir nie Geschichten vor, stattdessen «erzählte» sie. Jeden Abend etwas anderes. «Komm her, George, heute will ich dir von Mohammed erzählen.»
Sie hockte in ihren schwarzen Hosen im Türkensitz auf dem Sofa und winkte mir mit einer merkwürdig schlaffen Gebärde. In der Hand hielt sie die lange schwarze Zigarettenspitze, und die Armreifen mit den vielen Anhängern klirrten.
«Wenn man schon eine Religion haben muss, finde ich den Mohammedanismus ebenso gut wie irgendeine andere. Er geht davon aus, dass es das wichtigste ist, gesund zu bleiben. Man darf eine Menge Frauen haben, aber weder rauchen noch trinken.»
«Warum darf man weder rauchen noch trinken?»
«Wegen der vielen Frauen, Liebling. Für sie muss man gesund und männlich bleiben.»
«Was heißt männlich?»
«Darüber sprechen wir morgen, mein Herzchen. Immer nur eine Sache auf einmal. Ja, und die Mohammedaner leiden auch nie an Verstopfung.»
«Na, Clare», ließ sich mein Vater vernehmen, «halte dich lieber an die Tatsachen.»
«Was weißt denn du davon, mein guter Boris? Wenn du einmal versuchen wolltest, dich täglich morgens, mittags und abends in Richtung auf Mekka zu verneigen, bis deine Stirn die Erde berührt, dann würdest du in dieser Beziehung etwas weniger Schwierigkeiten haben.»
Ich verstand zwar kaum die Hälfte von dem, was sie mir erzählte, aber ich hörte ihr trotzdem mit Begeisterung zu. Sie vertraute mir ja Geheimnisse an, und etwas Aufregenderes gab es nicht.
«Komm her, George, ich will dir genau erklären, wie dein Vater sein Geld verdient.»
«Nein, Clare, jetzt ist es genug.»
«Unsinn, Liebster. Warum sollen wir vor dem Jungen ein Geheimnis daraus machen? Dann denkt er doch nur, es wäre noch viel, viel schlimmer.»
Als ich zehn Jahre alt war, fing sie an, mir detaillierte Vorträge über die sexuelle Frage zu halten. Das war das größte Geheimnis von allen und daher das reizvollste.
«Komm her, George, ich werde dir erzählen, wie du auf die Welt gekommen bist, ganz von Anfang an.»
Ich sah meinen Vater aufblicken und den Mund weit öffnen, wie er es immer tat, wenn er etwas Wichtiges sagen wollte. Doch schon richtete meine Mutter ihre glänzenden Augen auf ihn, und er wandte sich wieder seinem Buch zu, ohne ein Wort gesprochen zu haben.
«Dein armer Vater ist verlegen», sagte sie und schenkte mir ihr privates Lächeln, das nur ich bekam, niemand anders. Bei diesem Lächeln hob sie langsam den einen Mundwinkel, sodass sich eine hübsche Falte bis zum Auge hinauf bildete und eine Art Blinzel-Lächeln daraus wurde.
«Verlegen sein, Liebling, ist etwas, wovor ich dich um jeden Preis bewahren möchte. Und bilde dir ja nicht ein, dass dein Vater nur deinetwegen verlegen wäre.»
Mein Vater rückte nervös im Sessel hin und her.
«Mein Gott, solche Dinge setzen ihn sogar in Verlegenheit, wenn er mit mir, seiner Frau, allein ist.»
«Was für Dinge?», fragte ich.
Mein Vater stand auf und verließ das Zimmer.
Ungefähr eine Woche nach diesem Abend kam meine Mutter ums Leben. Vielleicht waren inzwischen auch schon zehn Tage vergangen oder vierzehn, genau weiß ich das nicht. Ich weiß nur, dass sich diese besondere Serie von «Erzählungen» dem Ende näherte, als es geschah, und weil ich selbst in die kurze Kette von Ereignissen, die zu ihrem Tode führten, verwickelt war, steht mir noch jede Einzelheit dieser merkwürdigen Nacht so deutlich vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Jederzeit kann ich meine Erinnerung einschalten und alles wie einen Film an meinen Augen vorüberziehen lassen, und was ich sehe, verändert sich nie. Immer endet es an derselben Stelle, nicht früher, nicht später, und immer beginnt es auf dieselbe Weise, seltsam unvermittelt, im Dunkeln, mit der Stimme meiner Mutter, die irgendwo über mir meinen Namen ruft.
«George! Wach auf, George! Wach auf!»
Und dann blendet mich grelles elektrisches Licht, aus dessen Mitte, aber von weit her, die Stimme auf mich einspricht: «George, wach auf, spring aus dem Bett, zieh deinen Schlafrock an! Schnell! Unten gibt es etwas Interessantes zu sehen. Komm, Kind, komm! Beeil dich! Zieh deine Hausschuhe an. Wir gehen hinaus.»
«Hinaus?»
«Rede nicht lange, George. Tu, was ich dir gesagt habe.»
Ich bin so verschlafen, dass ich kaum die Füße heben kann, aber meine Mutter nimmt mich fest an der Hand und führt mich nach unten, hinaus in die Nacht, wo mir die Kälte entgegenschlägt, als hätte mir jemand einen nassen Schwamm ins Gesicht geworfen. Ich reiße die Augen weit auf und sehe den Rasen, der von Frost glitzert, und die riesigen Äste der Zeder, die schwarz vor der schmalen Mondsichel stehen. Darüber wölbt sich der mit unzähligen Sternen besäte Himmel. Wir eilen über den Rasen, meine Mutter und ich; ihre Armbänder klirren wie toll, und ich muss laufen, um nicht zurückzubleiben. Bei jedem Schritt höre ich das spröde, gefrorene Gras unter meinen Füßen knirschen.
«Josephine hat gerade angefangen, ihre Jungen zu kriegen», sagt meine Mutter. «Das ist eine prachtvolle Gelegenheit. Jetzt wirst du sehen, wie das vor sich geht.»
In der Garage brennt Licht, und wir treten ein. Mein Vater ist nicht da, der Wagen auch nicht. Der leere Raum wirkt riesengroß, und durch die Sohlen meiner Hausschuhe spüre ich den eiskalten Betonfußboden. In einer Ecke liegt Josephine in ihrem niedrigen Drahtkäfig auf einem Strohhaufen. Josephine, ein großes blauschwarzes Kaninchen mit roten Augen, blickt misstrauisch auf, als wir hereinkommen. Ihr Mann, der Napoleon heißt, ist in einem Käfig in der gegenüberliegenden Ecke untergebracht. Ich bemerke, dass er auf den Hinterbeinen steht und ungeduldig an dem Maschendraht kratzt.
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