Drioli starrte das Bild an und überlegte, was ihm daran so bekannt vorkam. Verrücktes Bild, dachte er. Sehr seltsam und verrückt – aber ich mag es … Chaim Soutine … Soutine … «Mein Gott!», rief er plötzlich. «Das ist ja mein kleiner Kalmück! Tatsächlich, mein kleiner Kalmück, und sein Bild ist in der besten Kunsthandlung von Paris ausgestellt!»
Der alte Mann presste das Gesicht an die Scheibe. Er erinnerte sich an den Jungen – o ja, ganz deutlich erinnerte er sich an ihn. Aber wann war es gewesen? Und wo? Das ließ sich nicht so leicht herausfinden. Es war sehr lange her. Wie lange? Zwanzig – nein, eher dreißig Jahre, nicht wahr? Augenblick mal … Ja, es war ein Jahr vor dem Krieg gewesen, vor dem ersten Krieg. 1913 also. Und dieser Soutine, dieser hässliche kleine Kalmück, ein mürrischer, verschlossener Mensch – Drioli hatte ihn gern gehabt, fast geliebt, und zwar, wenn er’s recht bedachte nur deshalb, weil der Bursche malen konnte.
Und wie er malen konnte! Die Erinnerungen nahmen jetzt langsam Gestalt an – die Straße, die lange Reihe der Mülleimer, der widerliche Gestank, die braunen Katzen, die graziös über den Unrat hinwegschritten, und dann die Frauen, die schwitzenden dicken Frauen auf den Haustürtreppen. Dort saßen sie, die Füße auf dem Kopfsteinpflaster der Straße. Welcher Straße? Wo hatte der Junge gewohnt?
Richtig, in der Cité Falguière! Der alte Mann nickte mehrmals mit dem Kopf, froh, dass ihm der Name eingefallen war. Und nun erinnerte er sich auch an das Atelier mit dem einzigen Stuhl und der schäbigen roten Couch, die dem Jungen als Bett diente, an die Saufgelage, den billigen Weißwein, die schrecklichen Streitereien, und dazwischen tauchte immer wieder das finstere, verbitterte Gesicht des Jungen auf, der über seiner Arbeit brütete.
Seltsam, wie mühelos ihm jetzt alles ins Gedächtnis zurückkehrte, wie jede kleine Begebenheit, deren er sich entsann, eine andere nach sich zog.
Zum Beispiel die Sache mit der Tätowierung. Wirklich, so etwas Verrücktes war noch nie da gewesen. Wie hatte es doch gleich angefangen? Ach ja – er war eines Tages zu Geld gekommen und hatte sehr viel Wein gekauft. Er sah sich noch in das Atelier treten, das Paket mit den Flaschen unter dem Arm – der Junge saß vor der Staffelei, und seine, Driolis, Frau stand ihm Modell.
«Heute Abend wird gefeiert!», rief er. «Wir drei werden ein kleines Fest feiern.»
«Was gibt’s denn zu feiern?», fragte der Junge, ohne aufzublicken. «Hast du dich etwa entschlossen, die Scheidung einzureichen, damit deine Frau mich heiraten kann?»
«Nein», sagte Drioli. «Wir feiern, weil ich heute mit meiner Arbeit viel Geld verdient habe.»
«Und ich habe nichts verdient. Das können wir auch feiern.»
«Wie du willst.» Drioli stand am Tisch und wickelte die Flaschen aus. Er war müde und sehnte sich nach Wein. Neun Kunden an einem Tag – alles schön und gut, aber für die Augen war es eine Tortur. Nie zuvor hatte er es bis auf neun gebracht. Neun angeheiterte Soldaten, und das Erstaunlichste war, dass nicht weniger als sieben bar bezahlt hatten. Daher also dieser ungeheure Reichtum. Aber die Arbeit war das reinste Augenpulver. Driolis Lider waren schwer vor Müdigkeit, das Weiße des Augapfels war rot geädert, und etwa zwei Zentimeter dahinter nistete ein dumpfer Schmerz. Na wennschon – jetzt hatte er ja Ruhe, er war klotzig reich, und das Paket enthielt drei Flaschen, eine für seine Frau, eine für seinen Freund und eine für ihn selbst. Er fand den Korkenzieher und entkorkte die Flaschen. Jedes Mal war ein leises ‹Plopp› zu hören.
Der Junge legte den Pinsel hin. «Mein Gott», stöhnte er, «und dabei soll man nun arbeiten!»
Die junge Frau ging zu ihm hinüber, um das Bild zu betrachten. Drioli folgte ihr, in der einen Hand eine Flasche, in der anderen ein Glas.
«Nein!», rief der Junge, plötzlich auffahrend. «Bitte nicht!» Er riss das Bild von der Staffelei und stellte es gegen die Wand. Aber Drioli hatte es schon gesehen.
«Mir gefällt es.»
«Es ist scheußlich.»
«Es ist wunderbar. Alles, was du malst, ist wunderbar. Ich liebe deine Bilder.»
Der Junge runzelte missmutig die Stirn. «Das Schlimme ist nur, dass sie mich nicht ernähren. Ich kann sie nicht essen.»
«Aber sie sind trotzdem wunderbar.» Drioli füllte das Glas mit Wein und reichte es ihm. «Trink», sagte er. «Das wird dich glücklich machen.»
Nie zuvor war er einem Menschen begegnet, der so unglücklich wirkte und so finster dreinschaute. Er hatte ihn vor etwa sieben Monaten in einem Café kennengelernt. Ihm war aufgefallen, dass der Junge, der da mutterseelenallein saß und trank, wie ein Russe oder Asiate aussah, und so hatte er neben ihm Platz genommen und ihn angesprochen.
«Bist du Russe?»
«Ja.» – «Woher?»
«Minsk.»
Drioli war aufgesprungen, hatte ihn umarmt und geschrien, dass auch er dort geboren sei.
«Ich bin nicht direkt aus Minsk», hatte der Junge erklärt. «Aber mein Dorf liegt ganz in der Nähe.»
«Wie heißt es.»
«Smilowitschi, etwa fünfzehn Werst von Minsk.»
«Smilowitschi!», hatte Drioli gerufen und ihn nochmals umarmt. «Da bin ich als Kind oft gewesen.» Dann hatte er sich wieder gesetzt und den anderen liebevoll gemustert. «Weißt du», hatte er gesagt, «du siehst nicht wie ein Westrusse aus. Man könnte dich eher für einen Tataren oder Kalmücken halten. Tatsächlich, du siehst genau wie ein Kalmück aus.»
Jetzt, im Atelier, betrachtete er ihn abermals, während der Junge das Glas auf einen Zug leerte. Ja, er hatte das Gesicht eines Kalmücken – sehr breitflächig, mit hohen Jochbeinen und einer aufgestülpten, plumpen Nase. Die Flächigkeit der Wangen wurde noch durch die Ohren betont, die weit vom Kopf abstanden. Und er hatte auch die schmalen Augen, das schwarze Haar, die wulstigen, trotzigen Lippen eines Kalmücken. Nur die Hände – die Hände überraschten Drioli immer wieder, denn sie waren weiß und feinknochig wie die einer Dame, mit langen, schlanken Fingern.
«Gib mir noch etwas», sagte der Junge. «Wenn wir schon feiern, dann aber auch ordentlich.»
Drioli füllte die Gläser und ließ sich auf den einzigen Stuhl fallen. Der Junge saß mit Driolis Frau auf der alten Couch. Die drei Flaschen standen zwischen ihnen auf dem Fußboden.
«Heute Abend werden wir trinken, so viel wir nur können», verkündete Drioli. «Ich bin ungeheuer reich. Am besten gehe ich jetzt gleich und kaufe noch ein paar Flaschen. Wie viele soll ich holen?»
«Sechs», entschied der Junge. «Für jeden zwei.»
«Gut. Dann hole ich sie also jetzt.»
«Ich komme mit.»
Im nächsten Café kaufte Drioli sechs Flaschen Weißwein und trug sie mit Hilfe des Jungen ins Atelier. Sie stellten sie in zwei Reihen auf den Fußboden. Drioli entkorkte alle sechs, und dann tranken sie weiter.
«Nur die ganz Reichen können es sich leisten, so zu feiern», sagte Drioli.
«So ist es», bestätigte der Junge. «Nicht wahr, Josie?»
«Ja.»
«Wie fühlst du dich, Josie?»
«Gut.»
«Willst du Drioli verlassen und mich heiraten?»
«Nein.»
«Herrlicher Wein», lobte Drioli. «Ein Wein für reiche Leute.»
Langsam und methodisch gingen sie daran, sich zu betrinken. Das war ein stets gleich verlaufender Prozess, bei dem es ein gewisses Zeremoniell zu beachten galt. Man musste Haltung bewahren, musste viele Dinge sagen und nochmals sagen. Sehr wichtig war es zum Beispiel, den Wein zu loben, und man durfte auch nichts übereilen, damit Zeit blieb, die drei köstlichen Stadien des Übergangs zu genießen, von denen Drioli besonders jenes liebte, in dem er zu schweben begann und seine Füße sich vom Körper lösten. Das war das beste Stadium – wenn er auf seine Füße hinabsah und sie so weit weg waren, dass er sich fragte, welchem Idioten sie wohl gehörten und warum sie da unten auf dem Boden herumlagen.
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