«Kreuz-Ass und Kreuz-Dame», antwortete das Mädchen müde. «Pik-König und Pik-Bube. Kein Herz. Karo-Ass und Karo-Bube.»
«Und wie viele Karten zu jeder Farbe? Achte gefälligst auf meine Fingerstellung.»
«Die wollten wir doch auslassen, hast du gesagt.»
«Nun – wenn du dir ganz sicher bist, dass du sie kannst …»
«Ja, ich kann sie.»
Eine Pause. Dann: «Ein Kreuz .»
«Kreuz-König und Kreuz-Bube», zählte das Mädchen auf, «Pik-Ass. Herz-Dame und Herz-Bube. Karo-Ass und Karo-Dame.»
Wieder eine Pause. Dann: «Ich sage ein Kreuz.»
«Kreuz-Ass und Kreuz-König …»
«Herr des Himmels!», rief ich. «Das ist ein Code! Er gibt ihr jede Karte bekannt, die er in der Hand hat.»
«Arthur, das kann doch nicht sein?»
«Es ist wie bei diesen Männern im Varieté, die in den Zuschauerraum gehen und sich von irgendwem etwas geben lassen. Die Art, wie sie ihre Fragen formulieren, verrät dem Mädchen, das mit verbundenen Augen auf der Bühne steht, ganz genau, um was es sich handelt – wenn es ein Eisenbahnbillet ist, nennt sie sogar die Station, auf der es gelöst wurde.»
«Das ist doch unmöglich!»
«Keineswegs. Aber es kostet unendliche Mühe, das alles zu lernen. Hör zu!»
«Ich biete ein Herz «, sagte die Stimme des Mannes.
«Herz-König, Herz-Dame und Herz-Zehn. Pik-Ass und Pik-Bube. Kein Karo. Kreuz-Dame und Kreuz-Bube …»
«Außerdem», erklärte ich, «teilt er ihr die Anzahl der Karten jeder Farbe durch die Stellung seiner Finger mit.»
«Wie?»
«Keine Ahnung. Aber du hast ja gehört, dass er davon sprach.»
«Mein Gott, Arthur! Bist du sicher, dass es so ist?»
«Ich fürchte, ja.» Ich beobachtete, wie meine Frau zu ihrem Nachttisch ging, um sich eine Zigarette zu holen. Sie zündete sie an, drehte sich dann mit einem Ruck zu mir um und blies einen dünnen Rauchstrahl in die Luft. Mir war klar, dass wir irgendetwas unternehmen mussten, aber ich wusste nicht, was. Wir konnten ja die Snapes nicht beschuldigen, ohne zugleich unsere Informationsquelle preiszugeben. Ich wartete auf die Entscheidung meiner Frau.
«Du, Arthur», sagte sie langsam und blies eine Rauchwolke aus, «das ist eine phantastische Sache. Glaubst du, dass wir das lernen könnten?»
«Wir?»
«Natürlich. Warum nicht?»
«Halt! Nein! Hör mal, Pamela …»
Aber da kam sie schon mit schnellen Schritten geradewegs auf mich zu, blieb vor mir stehen, senkte den Kopf und blickte auf mich herab. Um ihre Mundwinkel spielte der vertraute Anflug eines Lächelns, das keines war, die Nase krauste sich, die großen, runden grauen Augen starrten mich mit ihren glänzenden schwarzen Pupillen an, und dann wurden sie ganz grau, und alles Übrige war weiß, von vielen roten Äderchen durchzogen. Und als sie mich so ansah, streng und aus nächster Nähe – also ich schwöre, dass mir zumute war wie einem Ertrinkenden.
«Ja», sagte sie. «Warum nicht?»
«Aber Pamela … Du meine Güte … Nein … Schließlich …»
«Arthur, ich wollte wirklich, du würdest mir nicht dauernd widersprechen. Genau das werden wir tun. Los, hol ein Spiel Karten; wir fangen sofort an.»
Am Morgen des dritten Tages beruhigte sich das Meer. Selbst die empfindlichsten Passagiere – jene, die sich seit der Abfahrt kein einziges Mal hatten blicken lassen – tauchten aus ihren Kabinen auf und wankten aufs Sonnendeck. Der Decksteward gab ihnen Liegestühle und packte sie warm ein, und so lagen sie einer neben dem anderen in langen Reihen, das Gesicht der blassen, fast kühlen Januarsonne zugewandt.
Nach zwei recht stürmischen Tagen hatte diese plötzliche Ruhe etwas so Tröstliches, dass sich die allgemeine Stimmung beträchtlich hob. Zwölf Stunden guten Wetters erfüllten die Passagiere mit neuer Zuversicht, und um acht Uhr abends war der Hauptspeisesaal voller Menschen, die mit der selbstsicheren und selbstzufriedenen Miene abgehärteter Seeleute aßen und tranken.
Sie hatten ihre Mahlzeit noch nicht beendet, als sie an einer leichten Reibung zwischen sich und den Stuhlsitzen merkten, dass das große Schiff von neuem zu schlingern begann. Zuerst war es nur ein langsames, sanftes Wiegen, aber es genügte, die Atmosphäre im Saal sofort zu verändern. Einige Passagiere blickten von ihren Tellern auf, zögerten weiterzuessen, warteten, ja lauschten beinahe auf das nächste Schlingern und lächelten nervös, einen Schimmer heimlicher Angst in den Augen. Andere blieben völlig ungerührt, wieder andere behaupteten prahlerisch, gegen die Seekrankheit immun zu sein, und machten Witze über das Essen und das Wetter, um diejenigen zu quälen, die sich bereits elend fühlten. Die Bewegungen des Schiffes wurden immer schneller, immer heftiger, und schon fünf oder sechs Minuten nach dem ersten Schlingern rollte es schwer von einer Seite auf die andere. Die Passagiere versteiften sich in ihren Stühlen und versuchten, wie in einem Auto, das eine Kurve nimmt, den Druck durch Gegendruck unwirksam zu machen.
Dann kamen die ersten sehr starken Stöße. Mr. William Botibol, der am Tisch des Zahlmeisters saß, sah seinen Teller mit gekochtem Steinbutt und holländischer Soße plötzlich unter der Gabel weggleiten. Die Unruhe der Passagiere nahm zu, jeder griff nach Tellern und Weingläsern. Mrs. Renshaw schrie auf und umklammerte den Arm des Zahlmeisters, ihres Nachbarn zur Linken.
«Wird ’ne schlimme Nacht werden», meinte der Zahlmeister und blickte Mrs. Renshaw an. «Ich glaube, da braut sich etwas zusammen.» In seiner Stimme schwang eine Spur von Schadenfreude mit.
Ein Steward eilte herbei und befeuchtete das Tischtuch zwischen den Tellern mit Wasser. Die Aufregung legte sich, die meisten Passagiere aßen weiter. Ein paar, unter ihnen auch Mrs. Renshaw, erhoben sich vorsichtig und steuerten mit einer Art unauffälliger Hast zwischen den Tischen hindurch auf die Tür zu.
«Hm», sagte der Zahlmeister. «Da geht sie hin.» Er blickte beifällig auf diejenigen seiner Herde, die ruhig sitzen geblieben waren und unverhohlen den selbstgefälligen Stolz zur Schau trugen, den Passagiere darin zu setzen scheinen, als seefest zu gelten.
Nach dem Essen wurde der Kaffee serviert. Mr. Botibol, der ungewöhnlich ernst und nachdenklich geworden war, stand auf, nahm seine Tasse und ging um den Tisch herum zu Mrs. Renshaws leerem Platz. Er setzte sich, beugte sich zu dem Zahlmeister und sagte in eindringlichem Flüsterton: «Ach bitte, dürfte ich Sie wohl etwas fragen?»
Der Zahlmeister, klein, dick und rotgesichtig, wandte sich ihm zu. «Na, wo fehlt’s denn, Mr. Botibol?»
«Die Sache ist so …» Seine Miene war, wie der Zahlmeister feststellte, äußerst besorgt. «Ich würde gern wissen, ob der Kapitän schon die Strecke berechnet hat, die das Schiff bis morgen Mittag zurücklegen wird – für die Tageswette, verstehen Sie? Ich meine, ob er’s getan hat, bevor es so auffrischte.»
Der Zahlmeister, der irgendeine vertrauliche Mitteilung privater Natur erwartet hatte, lächelte und lehnte sich zurück, um seinen vollen Bauch zu entspannen. «Das möchte ich eigentlich annehmen», erwiderte er. Obwohl er fand, dass kein Grund zum Flüstern vorlag, senkte er – wie immer, wenn man ein Flüstern beantwortet – unwillkürlich die Stimme.
«Und wann, glauben Sie, hat er die Strecke berechnet?»
«Irgendwann am Nachmittag. Das ist so seine übliche Zeit.»
«Um wie viel Uhr etwa?»
«Ach, ich weiß nicht. So gegen vier, würde ich sagen.»
«Nun verraten Sie mir noch etwas. Wie kommt der Kapitän zu dem jeweiligen Ergebnis? Macht er deswegen viel Umstände?»
Der Zahlmeister betrachtete lächelnd Mr. Botibols sorgenvolle Miene. Er wusste genau, worauf der Mann hinauswollte. «Nun, der Kapitän bespricht sich mit dem Navigationsoffizier, sie studieren die Wetterlage, berücksichtigen auch noch so manches andere und ziehen aus alledem ihre Schlüsse.»
Читать дальше