Dann schleuderte Gai den Zögling Sef beiseite und drehte sich, die Hacken zusammenschlagend, zum Herrn Rittmeister. Wie jedes Mal nach so einem Ausbruch begeisterter Erregung klangen ihm die Ohren, die Welt schwankte und verschwamm süß und mild vor seinen Augen.
Korporal Waribobu, die Hand gegen die Brust gepresst und vor lauter Anstrengung blau im Gesicht, hustete schwach. Der Herr Stabsarzt trank gierig Wasser, direkt aus der Karaffe, und nestelte dabei sein Taschentuch hervor. Er war purpurrot und schweißnass im Gesicht. Finster und abwesend stierte der Herr Rittmeister, als versuche er sich an etwas zu erinnern. Und auf der Schwelle wälzte sich, ein schmutziger Haufen karierter Lumpen, der rothaarige Sef. Das Gesicht zerschlagen, schluckte er glucksend Blut und stöhnte schwach durch seine Zähne. Mach-sim lachte nicht mehr. Seine Miene war jetzt starr wie bei einem normalen Menschen, der Mund stand halb offen, und sein Blick war auf Gai gerichtet.
»Soldat Gaal«, krächzte der Herr Rittmeister mit brüchiger Stimme. »Äh … Ich wollte Ihnen etwas sagen … Oder habe ich das schon? … Warten Sie, Sogu, lassen Sie mir wenigstens ein Schlückchen Wasser übrig.«
3
Maxim erwachte mit schwerem Kopf. Im Zimmer war es stickig; man hatte nachts wieder das Fenster geschlossen. Aber auch ein offenes Fenster hätte wenig genützt - die Stadt lag zu nahe, und über ihr hing, wie man am Tage deutlich sah, eine dicke, braune Dunstglocke. Und der Wind trug die widerlichen Abgase von der Stadt hierher; da halfen weder die Entfernung noch die fünfte Etage noch der Park. Jetzt wäre eine Ionendusche recht, dachte Maxim. Und dann nackt in die Natur hinaus - nicht in diesen halb verrotteten Park, sondern in eine irdische Landschaft, irgendwo bei Leningrad, in der Karelischen Landenge. Fünfzehn Kilometer in vollem Tempo um einen See laufen, durch den See schwimmen und dann zwanzig Minuten zwischen den glitschigen Unterwassersteinen umhertauchen, um die Lunge zu trainieren … Er sprang aus dem Bett, öffnete das Fenster, beugte sich in den Nieselregen hinaus, atmete die feuchte Luft tief ein und - musste husten, zu viel Dreck in der Luft, und die Regentropfen hinterließen einen metallischen Geschmack im Mund. Mit heulenden Motoren sausten Autos über die Schnellstraße. Unten vor dem Fenster glänzte das nasse Laub, und auf der hohen gemauerten Einfriedung glitzerten Scherben. Im Park kehrte eine Gestalt in langem, triefendem Umhang das herabgefallene Laub zusammen. Durch den Regenschleier hindurch konnte Maxim die Backsteingebäude einer am Stadtrand gelegenen
Eine bedrückende, kranke Welt, unbehaglich und deprimierend - wie jene Amtsstube, in der Menschen mit hellen Knöpfen und schlechten Zähnen ohne erkennbaren Grund plötzlich zu singen begonnen hatten, ja, sich geradezu heiser schrien, und Gai, dieser angenehme, sympathische Bursche, aus heiterem Himmel über den rotbärtigen Sef herfiel und ihn brutal zusammenschlug. Und der hatte sich nicht einmal zur Wehr gesetzt! Eine unselige Welt. Der radioaktive Fluss, das absurde Eisengefährt, die verpestete Luft und diese schmuddeligen Reisenden in dem klobigen, dreistöckigen Metallkasten auf Rädern, der graublauen Rauch in die Luft ausstieß. Und was war das für eine hässliche Szene im Waggon, als ein paar nach Fuselöl stinkende Grobiane mit ihrem Gegröle und unflätigen Gesten eine ältere Frau zum Weinen brachten? Obwohl der Waggon voller Leute war, trat niemand für sie ein. Alle schauten weg, nur Gai sprang plötzlich auf, blass vor Zorn - oder auch vor Angst, schrie ihnen etwas zu, und sie verschwanden. Eine Welt voller Bosheit, Angst und Aggression. Alle hier waren entweder sehr gereizt oder niedergeschlagen, mal das eine, mal das andere. Selbst Gai, allem Anschein nach ein gutherziger Mensch, geriet mitunter in eine plötzliche, unerklärbare Wut, stritt heftig mit den anderen Passagieren, sah mich böse an und verfiel dann wieder unvermittelt in einen Zustand vollkommener Erschöpfung. Die übrigen Reisenden benahmen sich nicht besser. Stundenlang saßen oder lagen sie friedlich auf den Bänken, unterhielten sich leise, lächelten einander sogar zu. Auf einmal aber fauchte jemand seinen Nachbarn an, der fauchte böse zurück; die Umsitzenden, anstatt sie zu beruhigen, mischten sich ein, und schon hatte der Tumult den ganzen Waggon erfasst: Alle schrien sich gegenseitig an, drohten einander, schubsten sich
Maxim trat vom Fenster zurück, stand noch eine Weile apathisch da und fühlte sich innerlich leer und völlig erschöpft. Aber dann riss er sich zusammen, machte Morgengymnastik, wobei er den klobigen Holztisch als Turngerät benutzte. So schnell geht man vor die Hunde, dachte er besorgt. Noch ein, zwei Tage halte ich das aus, dann muss ich hier weg, laufen, durch die Wälder streifen. Vielleicht setze ich mich ins Gebirge ab, die Berge hier sehen herrlich aus, wild. Allerdings sind sie ziemlich weit weg, in einer Nacht schaffe ich es nicht bis dorthin. Wie nannte Gai sie? Sartak. Ist das nun ein Eigenname oder steht das Wort für Gebirge im Allgemeinen? Egal. Aber was soll ich überhaupt in den Bergen? Zehn Tage bin ich schon hier und noch keinen Schritt weitergekommen.
Maxim zwängte sich in die Duschkabine und rieb sich ein paar Minuten lang prustend ab. Dieser stramme, künstliche Regen war zwar etwas kühler, doch ansonsten genauso widerwärtig wie der Regen vor dem Fenster - hart und kalkig, zudem gechlort und durch rostige Rohre geschleust.
Er trocknete sich mit einem desinfizierten Handtuch ab, zog die Shorts an und kehrte in das kleine Zimmer zurück - unzufrieden mit sich und der ganzen Welt, mit dem trüben Morgen, diesem stickigen Planeten, seiner idiotischen Situation und dem entsetzlich fetten Frühstück, das er gleich würde essen müssen. Dann machte er sein Bett - ein hässliches Metallgestell mit Gitterrost, darauf eine gestreifte Matratze, so widerwärtig und schmierig, dass sie Maxim an einen alten, fettigen Pfannkuchen erinnerte.
Das Frühstück stand bereits auf dem Tisch, es dampfte und stank. Fischi machte schon wieder das Fenster zu.
»Guten Tag«, sagte Maxim zu ihr in der Landessprache. »Nicht nötig, das Fenster.«
»Guten Tag«, erwiderte sie und schob die zahlreichen Riegel vor. »Nötig. Es regnet. Ungesund.«
»Fischi«, sagte Maxim auf Russisch. Eigentlich hieß sie Nolu, doch Maxim hatte sie gleich zu Anfang »Fischi« getauft, wegen ihres Gesichtsausdrucks und ihres unerschütterlichen Gleichmuts.
Sie wandte sich zu ihm um und sah ihn an. Zum hundertsten Mal schon legte sie den Finger an ihre Nasenspitze und sagte: »Frau!«, danach deutete sie auf Maxim: »Mann!«, dann zeigte sie auf den über der Stuhllehne hängenden sackartigen Kittel, den Maxim hasste, und dozierte: »Kleidung. Muss sein!« Aus welchen Gründen auch immer, sie konnte keinen Mann in kurzen Hosen sehen. Für sie hatte sich ein Mann anzuziehen, und zwar vom Hals bis zu den Füßen.
Während er den Kittel anzog, richtete sie sein Bett, obwohl er ihr jedes Mal sagte, er mache das selbst. Sie schob den Tisch in die Zimmermitte, den Maxim immer wieder an die Wand rückte und drehte entschlossen die Heizung auf, die er später wieder bis zum Anschlag zuschrauben würde. Und alle seine »nicht nötig« zerschellten an ihren nicht weniger stereotypen »muss sein«.
Nachdem er den einzigen, zerbrochenen Knopf seines Kittels geschlossen hatte, setzte er sich an den Tisch und stocherte mit der zweizinkigen Gabel lustlos in seinem Frühstück. Dabei führte er mit Fischi den üblichen Dialog.
»Ich will nicht. Nicht nötig.«
»Muss sein. Essen. Frühstück.«
»Ich will nicht Frühstück. Schmeckt nicht.«
»Frühstück muss sein. Schmeckt gut.«
»Fischi«, sagte Maxim eindringlich, »Sie sind ein mitleidloser Mensch. Kämen Sie zu mir auf die Erde, würde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um Ihnen etwas nach Ihrem Geschmack vorzusetzen.«
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