Draußen blies der Wind weißen Staub über die breite Straße, die mit alten Sechseckplatten gepflastert war und keinen Bürgersteig hatte. Gegenüber sah Gai die weißen, einförmigen und langgezogenen Gebäude der Administration und des technischen Personals. Und auf der Straße ging Frau Idoja, die mit der einen Hand ihr Gesicht vor dem umherfliegenden Staub schützte und mit der anderen den im Wind flatternden Rock festhielt. Frau Idoja war eine füllige, stattliche Dame, die dem Herrn Brigadegeneral zusammen mit ihren Kindern in diese gefährliche Gegend gefolgt war. Der Wachposten an der Kommandantur präsentierte ihr das Gewehr; es war ein Neuer, mit noch unzerknittertem Staubmantel und aufs Ohr gezogenem Barett. Dann sah Gai zwei Lastwagen mit Zöglingen vorbeifahren - wahrscheinlich zum Impfen. Richtig so, der da kriegt einen Hieb ins Kreuz, was lehnt er sich auch über die Bordwand, ist hier schließlich kein Boulevard …
»Wie schreibst du dich eigentlich?«, fragte Waribobu. »Gaal? Oder kann ich einfach Gal schreiben?«
»Nein«, sagte Gai. »Mein Familienname ist Gaal.«
»Schade«, sagte Waribobu und lutschte nachdenklich an seiner Feder. »Gal hätte gerade noch in die Zeile gepasst.«
Schreibe nur, Tintenfass, schreibe, dachte Gai. Musst nicht auch noch Zeilen sparen! So was nennt sich Korporal. Die Knöpfe stumpf vom Grünspan, ein feiner Korporal! Trägt zwei Medaillen, und kann nicht einmal vernünftig schießen, das weiß jeder.
Die Tür wurde aufgerissen und Rittmeister Toot stürmte herein, am Arm die goldene Binde des Diensthabenden. Gai sprang auf und knallte die Hacken zusammen. Waribobu aber erhob sich nur andeutungsweise, ja, er hörte nicht einmal auf zu schreiben, der alte Sargnagel! Und so was nennt sich Korporal.
»Aah«, näselte der Rittmeister und zog sich angewidert die Staubmaske vom Kopf. »Soldat Gaal. Ich weiß, ich weiß, Sie verlassen uns. Bedauerlich. Aber ich freue mich für Sie. Ich hoffe, Sie zeigen in der Hauptstadt ebenso viel Eifer wie hier.«
»Jawohl, Herr Rittmeister!«, rief Gai dienstfertig. Vor Begeisterung kribbelte ihm sogar die Nase. Er verehrte Rittmeister Toot; er war gebildet und hatte früher in einem Gymnasium unterrichtet. Wie sich zeigte, war Gai auch dem Herrn Rittmeister vorteilhaft aufgefallen.
»Sie können sich setzen«, murmelte Rittmeister Toot, während er an der Barriere vorbei zu seinem Tisch ging. Ohne Platz zu nehmen, sah er flüchtig einige Papiere durch und griff dann zum Telefon.
Taktvoll wandte sich Gai zum Fenster. Auf der Straße war noch alles unverändert. In geschlossener Formation sah er seine Korporalschaft zum Mittagessen marschieren. Er blickte ihr wehmütig nach: Sie war ihm zur zweiten Heimat geworden. Jetzt werden die Jungs die Kantine betreten, dachte er, dann erteilt Korporal Serembesch ihnen das Kommando zum Barett-Abnehmen und aus dreißig Kehlen erschallt das »Dankeswort«; Töpfe dampfen, Schüsseln blinken und der alte Doga erzählt zum hundertsten Mal seinen Lieblingswitz vom Soldaten und der Köchin. Gai verließ sie wirklich ungern. Zwar war der Dienst gefährlich und das Klima schädlich, und zu essen gab es immer dasselbe, Konserven - aber trotzdem … Hier wusste man wenigstens, dass man gebraucht wurde, dass es ohne einen nicht ging. Tapfer stellte man sich dem unheilvollen Ansturm von Süden entgegen - und bekam ihn auch zu spüren: Allein die vielen Freunde, die er hatte begraben müssen; hinter der Siedlung befand sich ein ganzes Wäldchen von Stangen mit verrosteten Helmen. Andererseits - die Hauptstadt. Dorthin wurde nicht jeder berufen, und wenn, dann sicher nicht zur Erholung. Es hieß, vom Palast der Väter würden sämtliche Exerzierplätze überwacht, jeder Appell beobachtet
Gai blickte abermals aus dem Fenster und sah etwas, das ihn sehr erstaunte: Der Kommandantur näherten sich zwei Männer, von denen er den einen an seiner rotbärtigen Visage erkannte. Das war Sef, einer von den Schlimmsten, Feldwebel der hundertvierunddreißigsten Pionierabteilung, ein zum Tode Verurteilter, der sich sein Leben mit Trassensäuberung verdiente. Der andere sah abscheulich aus und schien eine wenig vertrauenerweckende Kreatur. Zuerst hielt ihn Gai für eine Missgeburt, einen der Entarteten, doch dann fiel ihm ein, dass Sef wohl kaum einen Entarteten zur Kommandantur schleppen würde. Der Bursche war halb nackt, jung, braungebrannt und kraftstrotzend wie ein Stier. Er war nur mit einer kurzen Hose aus einem seltsamen, glänzenden Stoff bekleidet. Sef trug zwar sein Gewehr bei sich, aber es hatte nicht den Anschein, als führe er den Fremden unter Androhung von Waffengewalt ab. Die beiden gingen nebeneinander, und der Halbnackte gestikulierte unbeholfen - offenbar versuchte er, Sef etwas zu erklären. Doch der keuchte nur und wirkte völlig benommen. Vielleicht ein Wilder, dachte Gai, als er den Unbekannten nochmals betrachtete. Nur - wie hat es ihn auf die Trasse verschlagen? Wurde er von Bären aufgezogen? So
Inzwischen waren die zwei Männer beim Wachposten angelangt. Sef wischte sich den Schweiß von der Stirn und begann, auf den Soldaten einzureden. Der Neue jedoch schien Sef nicht zu kennen und hielt ihm die Maschinenpistole vor die Brust. Offenbar forderte er ihn auf, den vorgeschriebenen Abstand einzuhalten. Jetzt mischte sich der Bursche ins Gespräch ein. Er fuchtelte wild mit den Händen, schnitt Grimassen und rollte mit seinen dunklen Augen wild hin und her. Na bitte, jetzt war auch der Wachposten sprachlos. Gleich würde er Alarm schlagen.
Gai drehte sich um. »Herr Rittmeister«, schnarrte er. »Gestatten zu melden: Der Feldwebel der Hundertvierunddreißigsten bringt jemanden, doch die Wache scheint ihn nicht passieren zu lassen. Möchten Sie ihn in Augenschein nehmen?«
Rittmeister Toot trat ans Fenster. Er runzelte die Stirn, stieß einen Flügel auf, lehnte sich hinaus, würgte am eindringenden Staub und rief: »Posten! Durchlassen!«
Während Gai das Fenster schloss, polterten Schritte durch den Flur. Kurz darauf betraten Sef und sein sonderbarer Begleiter die Amtsstube. Hinter den beiden drängte der Wachoffizier herein, gefolgt von zwei Mann aus seiner Schicht. Sef legte die Hände an die Hosennaht, räusperte sich, fixierte den Herrn Rittmeister mit seinen unverfrorenen blauen Augen und krächzte: »Es meldet der Feldwebel der hundertvierunddreißigsten Pionierabteilung, Zögling Sef. Dieser Mann wurde auf der Trasse aufgegriffen. Anscheinend ein Verrückter. Er frisst Giftpilze, plappert Kauderwelsch, versteht kein Wort und läuft, wie Sie zu sehen belieben, nackt herum.«
Während Sef redete, ließ der Festgenommene seine Blicke durch den Raum schweifen und bleckte seine ebenmäßigen, zuckerweißen Zähne. Den Anwesenden lächelte er eigenartig,
»Wer sind Sie?«, fragte er.
Der Bursche grinste noch unheimlicher, hämmerte sich mit der Faust an die Brust und bellte so etwas wie »Mach-sim«. Der Wachoffizier brach in lautes Gelächter aus, seine Leute kicherten, und selbst der Herr Rittmeister verzog die Mundwinkel zu einem Grinsen. Gai begriff nicht gleich, weshalb, doch dann erinnerte er sich: »Mach-sim« bedeutete im Gaunerjargon »Messer abgekriegt«.
»Anscheinend einer Ihrer Leute«, wandte sich der Rittmeister an Sef.
Sef schüttelte den Kopf, und dabei stob aus seinem Bart eine Staubwolke. »Ausgeschlossen«, sagte er. »›Machsim‹ nennt er sich nur, die Gaunersprache versteht er jedoch nicht. Also ist er auch keiner von uns.«
»Sicher ein Entarteter«, mutmaßte der Wachoffizier, worauf ihn der Rittmeister mit einem eisigen Blick bedachte. »Er ist nackt!«, fügte der Wachoffizier eindringlich hinzu, zog sich jedoch bereits zur Tür zurück. »Gestatten Sie wegzutreten, Herr Rittmeister?«, schnarrte er.
»Gehen Sie«, sagte Rittmeister Toot. »Schicken Sie jemanden nach Herrn Stabsarzt Sogu. Wo haben Sie ihn gefasst?«, erkundigte er sich bei Sef.
Читать дальше