Er öffnete die Augen und erinnerte sich an die letzten Stunden ihres Fluges. In Schlangenlinien hatten sie auf ›Mittelstation‹ zugehalten, betrunkene Seefahrer, die erbärmlichste Ansammlung von Menschen und Nichtmenschen, die das Dobelle-System jemals erlebt hatte. Er erinnerte sich daran, wie er sich die Lippen und die Fingerspitzen zerbissen hatte, bis das Blut daraus hervorgequollen war, wie er darum gekämpft hatte, bloß nicht einzuschlafen, wie er darum gekämpft hatte, die Augen offen zu halten. Er war Perrys halb unverständlichen Navigationsanweisungen gefolgt, so gut er nur konnte, während sie fünf Stunden lang immer und immer wieder Wendemanöver um ›Nabelschnur‹ herum gefahren waren. Mit Hilfe der winzigen Regulierungsdüsen für die Fluglage — das Einzige, was an Bord der Traumschiff noch Energie hatte — war es Rebka schließlich gelungen, sie mit letzter Kraft im größten Hangar der Station andocken zu lassen.
Er erinnerte sich an den Anflug — eine Schande für jeden Piloten. Es hatte fünfmal so lang gedauert, wie es eigentlich hätte dauern dürfen. Und als die letzte Andockmeldung an Bord eingegangen war, hatte Rebka sich im Pilotensitz zurückgelehnt und die Augen geschlossen — um sich einen Moment auszuruhen.
Und dann?
Dann hörten seine Erinnerungen einfach auf. Er blickte sich um.
Er musste eingeschlafen sein, gleich nachdem er die Meldung erhalten hatte. Irgendjemand hatte ihn in die ›Mittelstation‹ getragen und ihn dann zur Betriebsebene einer ›Nabelschnur‹-Kapsel gebracht. Dort hatte man ihm ein Medi-Korsett angelegt und ihn dann dort gelassen.
Er war nicht allein. Max Perry, die Unterarme mit schützendem gelbem Gel eingeschmiert und eingegipst, trieb an einer leichten Verankerung nur wenige Meter neben ihm. Er war bewusstlos. Darya Lang schwebte hinter ihm, ihr langes, braunes Haar war so zurückgebunden worden, dass es ihr nicht ins Gesicht hing. Unterhalb des Knies hatte man ihre Kleidung entfernt, Plasto-Fleisch bedeckte ihren verbrannten Fuß und ihren Knöchel. Sie atmete nur flach. Im Abstand von wenigen Sekunden murmelte sie irgendetwas vor sich hin, als würde sie jeden Augenblick aufwachen. Ihr Gesicht, so entspannt und frei von jedem Gedanken, glich dem einer Zwölfjährigen. Neben Darya schwebte Geni Carmel. So wie sie aussah, stand auch sie unter Medikamenteneinfluss, auch wenn bei ihr keine Verletzungen erkennbar waren.
Rebka warf einen Blick auf seine Armbanduhr: Der Gezeitensturm hatte vor dreiundzwanzig Stunden stattgefunden. Das ganze Feuerwerk im System von Erdstoß und Opal musste längst der Vergangenheit angehören. Und siebzehn Stunden von diesen dreiundzwanzig waren völlig an ihm vorbeigegangen.
Er rieb sich die Augen und stellte fest, dass sein Gesicht nicht mehr von Asche und Schmutz bedeckt war. Irgendjemand hatte ihn nicht nur in die Kapsel getragen, sondern ihn auch gewaschen und seine Kleidung gewechselt, bevor er hatte schlafen dürfen. Wer hatte das getan? Und wer hatte Perry und Lang die erforderliche medizinische Versorgung angedeihen lassen?
Damit kam er wieder zu seiner ersten Frage zurück: Wenn die vier alle bewusstlos waren, wer kümmerte sich dann ums Geschäft?
Rebka hatte Schwierigkeiten, mit den Beinen auf den Boden zu kommen, und musste dann feststellen, dass er das Korsett, das ihn festhielt, nicht lösen konnte. Selbst nach siebzehn Stunden der Ruhe war er immer noch müde genug, dass seine Finger sich nur langsam, schwerfällig und ungeschickt bewegten. Darya Lang sah vielleicht aus wie ein Teenager, er selbst aber fühlte sich eher wie ein arg mitgenommener Greis.
Endlich hatte Rebka sich befreit und war nun in der Lage, die behelfsmäßige Krankenstation zu verlassen. Kurz zog er in Erwägung, Perry und Lang zu wecken — Darya murmelte immer noch vor sich hin, als protestiere sie gegen irgendetwas —, doch dann entschied er sich dagegen. Es war davon auszugehen, dass man die beiden unter Anästhetika gesetzt hatte, bevor man ihre Wunden behandelt und das synthetische Fleisch aufgebracht hatte.
Langsam stieg Rebka die Treppenstufen hinauf, die zur Steuerungs- und Beobachtungskabine führten. Durch das transparente Dach der oberen Kabine war auf halber Distanz ›Mittelstation‹ zu erkennen. Hoch darüber, und dadurch wurde bestätigt, dass die Kapsel zu Opal herabsank, konnte Rebka in der Ferne Erdstoß erkennen, von dunklen Wolken überzogen und düster.
Die Wände der Beobachtungskabine, zehn Meter hoch, waren mit Display-Einheiten getäfelt. Graves, der an einer Steuerkonsole saß, flankiert von J’merlia und Kallik, betrachtete in nachdenklichem Schweigen sein Display. Die Reihe der Displays, auf die ständig neue Bilder übertragen wurden, verrieten, dass Graves sich die Oberfläche eines Planeten anschaute — doch es war Opal, nicht Erdstoß.
Eine Zeit lang schaute Rebka schweigend zu, ehe er die anderen auf seine Anwesenheit aufmerksam machte. Sie alle hatten sich in der letzten Zeit so sehr auf Erdstoß konzentriert, dass es ihnen leicht gefallen war zu vergessen, dass auch Opal den stärksten Gezeitensturm in der Geschichte der Menschheit durchgemacht hatte. Radaraufnahmen aus der Luft und aus dem Orbit, die sämtliche Wolkenschichten hatten durchdringen können, zeigten breite Streifen nackten Meeresbodens, freigelegt in Jahrtausendfluten. Auf dem schlammigen Meeresgrund waren immer wieder gewaltige grüne Hügel zu erkennen: tote Gießer, groß wie ganze Berge, waren gestrandet und unter ihrem eigenen Gewicht zusammengebrochen.
Andere Videoaufnahmen zeigte, wie die Schlingen von Opal sich auflösten, als gegenläufige Wellenfronten, meilenhoch, angetrieben von den Gezeitenkräften, an der Meeresoberfläche zerrten und sie in alle Richtungen verdrehten.
Die emotionslose Stimme eines Kommentators meldete die Verluste: Die Hälfte der Bevölkerung des Planeten war umgekommen, die meisten hatten den Tod in den letzten vierundzwanzig Stunden gefunden; ein Fünftel der Bevölkerung galt noch als vermisst. Doch noch bevor die abschließenden Berichte überhaupt fertig gestellt waren, hatte man bereits mit dem Wiederaufbau begonnen. Jeder Mensch, der sich auf Opal befand, ging nach einem stufenweise fortschreitenden Arbeitsplan vor.
Die Übertragungen zeigten Rebka, dass die Menschen von Opal alle Hände voll zu tun hatten. Wenn seine Gruppe zur Landung ansetzte, konnten sie wohl nicht damit rechnen, dass man ihnen zu Hilfe käme.
Rebka ließ sich ein Stück weit nach vorne treiben und tippte Graves sanft auf die Schulter. Der Allianzrat zuckte zusammen, wirbelte in seinem Stuhl herum und grinste ihn an.
»Aha! Aus den Traumlanden zurückgekehrt! Wie Sie sehen, Captain …« Mit einer ausladenden Handbewegung deutete er aufwärts, dann zu den zahlreichen Bildschirmen. »Unsere Entscheidung, den Gezeitensturm auf Erdstoß mitzuerleben und nicht auf Opal hat sich als weitaus klüger denn gedacht herausgestellt.«
»Wären wir während des Gezeitensturms auf der Oberfläche gewesen, Allianzrat, wären wir jetzt Asche. Wir hatten Glück!«
»Sogar mehr Glück, als Sie vielleicht denken. Und das schon lange vor dem eigentlichen Gezeitensturm.« Graves deutete auf Kallik, die mit einem Vorderbein mehrere Displays gleichzeitig bediente und mit einem anderer Zahlen in einen Taschencomputer eingab. »Laut unserer Hymenopter-Freundin hier hat es Opal schlimmer erwischt als Erdstoß. In jeder freien Minute, seit wir die Oberfläche von Erdstoß hinter uns gelassen haben, hat Kallik Energiebilanz-Berechnungen durchgeführt. Sie stimmt mit Commander Perry überein — die Oberfläche hätte während der Großen Konjunktion deutlich aktiver sein müssen, als das der Fall war. Die ganze Zeit über, während wir uns dort aufgehalten haben, wurde nicht die gesamte Energie freigesetzt. Stattdessen war dort irgendein gerichteter Energiespeicherungs- und Freisetzungsmechanismus für die Gezeitenkräfte am Werk. Ohne den hätten Menschen auf dem Planeten schon lange, bevor wir diesen verlassen hatten, nicht mehr überleben können. Aber mit der Hilfe dieses Mechanismus wurde ein Großteil der Energie für irgendeinen anderen Zweck genutzt.«
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