»Meistens geht es damit los, dass der oder die Betreffende sich selbst verletzt, sich selbst Wunden zufügt«, antwortete Vijay. »Dann eskaliert die Sache, und es werden Geräte beschädigt und Dinge zerstört. Wenn man es nicht rechtzeitig stoppt, kann es zu Gewalttätigkeiten, ja sogar zu Mord führen.«
»Du bist der Doktor, Vijay«, sagte Jamie. »Ist jemand mit einer Verletzung zu dir gekommen, die er oder sie sich selbst beigebracht haben könnte?«
Sie dachte einen Moment lang darüber nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Nur die üblichen Schnitt- und Schürfwunden. Oh, da war Tommys verbrannte Hand, aber ich bezweifle, dass er das selbst gemacht hat.«
»Garantiert nicht!«, sagte Rodriguez entrüstet.
Jamie sagte: »Ohne Namen zu nennen: Gibt es irgendwas Verdächtiges in einem unserer psychologischen Profile?«
»Nein, mir fällt nichts ein. Natürlich haben wir alle einen kleinen Sprung in der Schüssel, weil wir hier sind, aber abgesehen davon: nein.«
»Was ist mit deinem psychologischen Profil?«, fragte Trudy und zwang sich zu einem Lächeln, um zu zeigen, dass sie es nicht böse meinte.
»Ich hab genauso viele Schrauben locker wie ihr alle.« Vijay erwiderte das Lächeln. »Aber das besagt rein gar nichts, oder?«
»Wer kommt denn an Säure ran, die so stark ist, dass sie sich sogar durch den Schutzmantel des Atomgenerators frisst?«, fragte Rodriguez.
»Jeder von uns«, erwiderte Dex.
Zum ersten Mal ergriff Fuchida das Wort. »Ich habe detaillierte Fotos der Löcher, die während des Sturms in die Gartenkuppel gebohrt worden sind. Ich habe nachgemessen, auf welcher Höhe sie sich befinden, und könnte das mit der Größe und Armlänge von uns allen vergleichen.«
»Klingt ziemlich fragwürdig, finde ich«, sagte Jamie.
Fuchida nickte unglücklich. »Ja, es wäre alles andere als schlüssig. Ich klammere mich an einen Strohhalm.«
»Wir bräuchten hier einen Sherlock Holmes«, witzelte Dex. »Oder zumindest Hercule Poirot.«
»Miss Marple«, sagte Trudy Hall.
»Ellery Queen.«
»Herrgott«, sagte Rodriguez, »ich würde mich schon mit Inspektor Clouseau begnügen.«
Alle brachen in Gelächter aus.
Zumindest hat sich die Spannung gelöst, dachte Jamie. Jedenfalls ein bisschen.
Er sorgte mit einer beidhändigen Geste für Ruhe. »Okay, wir haben keinen Detektiv, und wir haben kein Geständnis.
Also werden wir Folgendes tun.«
Sie drehten sich alle erwartungsvoll zu ihm um.
»Von jetzt an geht niemand mehr allein irgendwohin. Wir arbeiten in Teams von mindestens zwei Personen. Wenn wir nicht rauskriegen, wer uns sabotiert, können wir den Täter oder die Täterin zumindest daran hindern, noch mehr Schaden anzurichten.«
»Ich gehe mit Trudy«, rief Tomas sofort. »Ich werde sie nicht aus den Augen lassen!« Er grinste wölfisch.
Jamie zog die Augenbrauen hoch, fuhr jedoch fort: »Das heißt, zwei von uns sitzen die ganze Nacht über an der Kommunikationskonsole. Einer macht an der Konsole selbst Dienst, der andere bewacht die Kuppel und sorgt dafür, dass niemand durch die Gegend schleicht, wenn er oder sie eigentlich schlafen sollte.«
»Ich tue mich mit Vijay zusammen«, erbot sich Dex. »Wir können das Kommunikationszentrum übernehmen.«
Jamie schaute Vijay an und sah, dass sie seinen Blick erwiderte. »Nein, Dex, wenn du nichts dagegen hast, würde ich es vorziehen, wenn du dich mit Mitsuo zusammentätest.
Ihr beiden könnt die erste Schicht übernehmen, dann lösen Vijay und ich euch um zwei Uhr ab.«
Dex zögerte nur einen Sekundenbruchteil, dann grinste er und zuckte die Achseln. »Okay, meinetwegen.«
Vijay starrte Jamie weiterhin an.
TAGEBUCHEINTRAGUNG
Nichts, was ich tue, läuft wie geplant. Es hat über eine Woche gedauert, bis der Atomgenerator ausgefallen ist. Statt abzufliegen, kommen sie nun alle hierher. Ich muss etwas noch Schlimmeres tun. Etwas, das sie ZWINGT, den Heimflug anzutreten, von diesem gottverlassenen Ort zu verschwinden und dorthin zurückzukehren, wohin wir gehören. Aber was kann ich tun? Vielleicht Feuer. Feuer reinigt alles. Feuer vertreibt das Böse. Schließlich haben sie Feuer benutzt, um die bösen Geister aus den Hexen zu vertreiben, oder nicht? Feuer ist genau das, was ich jetzt brauche.
TARAWA: SOL 372
»In den alten Zeiten«, sagte Pete Connors, »wurde jedes einzelne Ausrüstungsstück auf Bestellung angefertigt. Jedes Fahrzeug, jeder Sensor, jede Mutter und jede Schraube wurde speziell für das Projekt hergestellt. Deshalb war die Weltraumforschung so teuer.«
Der Flugkontrolleur ging mit zwei Reportern am Strand spazieren und gab ihnen Hintergrundinformationen über den bevorstehenden Start. Rechts von ihnen donnerte die Brandung gegen das Riff des Atolls, und dahinter erstreckte sich der blaue Pazifik, so weit das Auge reichte, unter einem balsamischen Himmel, der mit weißen Wolken-Wattebäuschen getüpfelt war. Links von ihnen stand der gedrungene, konische Rumpf einer Clippership-Rakete an der Startrampe, umhüllt von einem stählernen Spinnennetz von Gerüsten, auf denen geschäftige Techniker herumwimmelten.
»Es ist immer noch nicht billig«, sagte die Reporterin mit erhobener Stimme, um sich trotz des frischen Windes und der fernen Brandung Gehör zu verschaffen. Der Wind und die Feuchtigkeit hatten ihr kastanienbraunes Haar verwuschelt. Trotz der warmen Sonne trug sie noch immer eine Hose und eine langärmelige Bluse.
Connors schenkte ihr ein Zahnpastalächeln. »Nein, das stimmt. Aber es ist erheblich besser als früher. Ist jetzt um ein Vielfaches billiger.«
Der Reporter – er war noch jung, aber sein Bauchansatz war nicht zu übersehen, und sein Haar lichtete sich bereits –
schaute ernst und ein wenig finster drein. »Ja, aber ganz gleich, wie Sie's formulieren, die Nachschubmission startet nicht planmäßig. Also, wann ist es denn nun so weit?«
»Wir haben jetzt nächsten Montag ins Auge gefasst«, antwortete Connors unverzüglich. »Könnte ein Nachtstart werden, wir wissen es noch nicht genau.«
»Aber das Startfenster …«
»Da sind wir ziemlich flexibel. Mit der zusätzlichen speziellen Schubkraft des Nuklearantriebs können wir das Startfenster erheblich erweitern.«
Die Frau bat sie, einen Moment stehen zu bleiben. Sie zog die Schuhe aus, schüttelte den Sand heraus und stopfte sie in ihren geräumigen Rucksack.
Der Reporter fragte: »Reicht denn eine Woche, um das Raumschiff mit allem Nötigen auszustatten?«
»Sie meinen den Reserve-Stromgenerator?« Connors nickte eifrig. »Da zahlt sich unsere Logistik-Strategie aus. Seit dem eigentlichen Start vor über einem Jahr haben wir Ersatzgeräte auf Lager. Der Reservegenerator ist auf dem Weg aus den Staaten hierher, und wir haben schon einen neuen bestellt, um unseren Lagerbestand an Ersatzgeräten wieder aufzufüllen.«
»Rechnen Sie damit, dass der Atomgenerator noch mal ausfällt?«, fragte die Frau.
Connors setzte sein breitestes Lächeln auf. »Nein. Aber wir haben auch nicht damit gerechnet, dass uns derjenige, der ausgefallen ist, im Stich lassen würde.« Von den mehreren hundert Männern und Frauen, die auf Tarawa für die zweite Marsexpedition arbeiteten, wussten nur fünf – darunter Connors –, dass der Atomkraftgenerator sabotiert worden war. Und er hatte keineswegs vor, diese Zahl auf sechs oder sieben anwachsen zu lassen.
»Dann werden Sie also am Montag starten können?«
»Sieht so aus«, erwiderte er und nickte. »Und falls es sich noch ein paar Tage verzögert, wäre das auch kein Problem.«
»Und der Flug zum Mars wird fünf Monate dauern.«
»Richtig. Sie werden ungefähr drei Wochen vor dem Abflug der ursprünglichen acht vom Mars landen.«
»Was ist mit den Wissenschaftlern?«, fragte die Frau.
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