Ihr knurrender Magen machte sie darauf aufmerksam, wie die Zeit verging, doch sie blätterte noch eine Seite weiter – und da war sie: die Rune, die sich auf Kerims Rücken befunden hatte. Sham überflog die Seite dahinter. Bindungsmagie, ja, davon hatte sie bereits gehört. Sie war dafür gedacht, Kraft vom Gebundenen abzusaugen und sie dem Schöpfer der Rune zuzuführen. Richtig, das hatte sie gewusst – oder zumindest geahnt. Dann hielt sie inne und überflog mit dem Finger die Seite.
… kann nur auf Einladung des Gebundenen angebracht werden – wenngleich eine solche Zustimmung nicht ausdrücklich gewährt werden muss, sondern auch in Form ausgeprägter Freundschaft, körperlicher Nähe oder seelischer Verbundenheit vorliegen kann. So ist es dem Schöpfer möglich, seine Lieben, Diener oder Bettgefährten ohne deren Wissen mit dieser Rune zu zeichnen.
Sham rieb sich die Nase und hörte auf zu lesen. Der Dämon war demnach jemand, der Kerim nahestand; oder jemand der zu dem Zeitpunkt, als die Rune angebracht wurde, das Erscheinungsbild eines solchen Menschen innegehabt hatte. Nach allem, was sie gelesen hatte, bestand durchaus die Möglichkeit, dass der Dämon seinen Golem-Körper benutzt hatte, um die Runen anzubringen.
Fahill, fiel ihr ein, war ein enger Freund gewesen. Er war ungefähr zu der Zeit gestorben, als Kerim krank geworden war. Konnte sich Fahills Tod schon früher ereignet haben, sodass der Golem seinen Platz eingenommen hatte? Oder war es jemand anderes?
Was sie vor allem anderen tun musste, war, Kerim danach zu fragen, was sich in Fahills Burg abgespielt hatte. Keine Aufgabe, auf die sie sich freute, aber es würde den Kreis der Verdächtigen vielleicht einschränken und sie dem Zeitpunkt näher bringen, zu dem sie die Feste verlassen konnte. Ihn verlassen konnte.
Es wäre am besten für sie, wenn sie den Dämon bald fänden, denn dann könnte sie zurück nach Fegfeuer gehen – oder vielleicht ein wenig reisen.
Mehrere Minuten lang starrte sie auf das Buch, bevor sie sich rastlos erhob. Elsic, der den Saiten der Harfe gerade harmonische Akkorde entlockte, schaute auf, wandte jedoch die Aufmerksamkeit wieder seiner Musik zu, als sie nichts sagte. Dickon konzentrierte sich dermaßen auf den kleinen Lichtschimmer in seiner Hand, dass mehr als das Geräusch ihrer Bewegung notwendig gewesen wäre, um ihn abzulenken.
»Ich sehe mal nach, ob ich der Küche etwas abluchsen kann. Bleib hier bei Dickon, ich bin gleich zurück«, sagte Sham. Sie wollte mit Kerim reden, bevor sie mit irgendjemand anderem über ihre Entdeckung sprach.
Elsic lächelte und spielte weiter; Dickon nickte und starrte ungebrochen auf den flackernden Funken Magie, den er in der Hand hielt.
Sham ging zu der Tür, die erst seit dem Vortag den Wandteppich ersetzte. Sie rechnete nicht damit, dass Kerim da sein würde – in den letzten Tagen war er häufiger unterwegs als in seinen Gemächern –, aber sie wollte nicht mit den zwei Gardisten durch die Gänge wandeln, die an ihrer Außentür Dienst versahen.
Die neu eingehängte Tür öffnete sich geräuschlos, und Sham zog sie hinter sich zu. Sie trat einen Schritt auf die Außentür zu, als das Knarren von Leder ihre Aufmerksamkeit zum Bett lenkte.
Das Erste, was ihr auffiel, war Kerims leerer Stuhl. Sie erlebte einen Augenblick der Verwirrung, bevor ihr klar wurde, dass sich Kerim im Bett befand … und zwar nicht allein. Sofern sie sich nicht irrte, gehörte der schlanke, in Seide gekleidete Rücken, der aus der Bettwäsche über Kerim aufragte, Lady Sky.
Es schmerzte mehr, als Sham für möglich gehalten hätte. Lautlos sog sie den Atem ein. Würde bewahren , mahnte sie sich, wie es ihr von ihrer Mutter beigebracht worden war. Wenn das Leben die Erwartungen nicht erfüllte, war es wichtig, das mit Würde zu ertragen. Ihr Vater hatte dasselbe gesagt, wenngleich auf andere Weise: Leck deine Wunden im Verborgenen, damit deine Feinde nicht sehen, wo du verwundbar bist.
Wenn … , dachte sie, als sie lautlos zu ihrer Tür zurückkehrte. Wenn Sky doch nur nicht so wunderschön und keine Freundin wäre . Dadurch wurde es noch schwerer, da Sham durchaus verstand, was Kerim in Sky sah.
Sie wandte sich schon ab, um die beiden allein zu lassen, als ihr ein kurzer Textabschnitt einfiel, der ihr den Atem stocken ließ. ›Körperliche Nähe‹ hatte im Buch gestanden. Sie zögerte und fragte sich, ob sie ihre Gedanken von Eifersucht beeinflussen ließ.
War Lady Sky der Dämon?
Rasch suchte sie nach Einwänden gegen diese Vermutung. Dämonenwirtskörper wurden mit einer Todesrune gebunden, die nicht entfernt werden konnte – und die jegliche Nachkommen des Wirtskörpers tötete, bevor sie sich entwickeln konnten. Sky war in den vergangenen zwei Jahren zweimal schwanger gewesen.
Wie konnte ein Dämon einer Todesrune entgegenwirken?
Indem er das Kind mit Lebensmagie abschirmte. Dafür wäre eine gewaltige Menge an Macht erforderlich, obwohl der Zauber an sich nicht allzu schwierig war. Sky hatte eine Fehlgeburt erlitten, nachdem Sham die Dämonenrune von Kerim entfernt hatte – eine Rune, die Kerim das Leben abgesaugt hatte.
Die Mühelosigkeit, mit der sie diese Antwort fand, entsetzte Sham. Sie suchte rasch nach weiteren Gründen, weshalb Sky der Dämon sein könnte.
Sky war in Kerims Umfeld gewesen, als Fahill starb. Dem Gesichtsausdruck nach, den sie bei Kerim gesehen hatte, hielt es Sham durchaus für möglich, dass eine Art körperlicher Nähe zwischen ihnen bestanden hatte. Sie verkörperte alles, was sich ein männlicher Zauberer von einem Wirt für einen Dämon wünschen konnte: Sie ließ sich wunderbar als Sexgespielin einsetzen, um Magie aufzubringen; war wunderschön, liebenswert und … in Kerims Bett. Die Einzelheiten konnte Sham später ausarbeiten.
Sie drehte sich der Verbindungstür zu und öffnete sie geräuschlos. Dann warf Sham sie so heftig zu, dass die glänzenden neuen Angeln protestierten – nur die Götter wussten, was sich Elsic und Dickon denken mochten. So erweckte sie den Anschein, sie hätte den Raum zum ersten Mal betreten.
Sham sog lautstark den Atem ein, als wäre sie zutiefst empört, dann kreischte sie wild, als sie auf das Bett zustürmte. Mit verhaltener Belustigung stellte sie fest, dass sie ihre Wut gar nicht vorzutäuschen brauchte. Als der Lärm mit nahezu der Wirkung von Trompetenstößen durch die Steinmauern des Raumes hallte, wirbelte Sky ruckartig herum und offenbarte den Blick auf die gelösten Schnüre ihres Mieders.
Aufgrund von Lady Skys vergleichsweise sittsamem Zustand hoffte Sham, dass die beiden noch keine Zeit gehabt hatten, ihre Vereinigung zu vollziehen. Sie dankte den Mächten, dass sie nicht lang genug allein gewesen waren, wenngleich der benommene Ausdruck in Kerims Augen nichts Gutes verhieß. Er hatte den Blick nicht einmal von Sky abgewandt. All ihre Zweifel verpufften – er glich keinem Liebhaber, der erschrocken durch eine unerwünschte Störung war, sondern einem Mann in den Klauen eines Bannes.
»Miststück!«, kreischte Sham und ging voll in ihrer Rolle als Lady Shamera auf.
Sie packte den Krug mit frischem, kaltem Wasser, der in einsamer Pracht auf einem kleinen Tisch in praktischer Reichweite neben dem Bett des Vogts stand. Sham erfasste den oberen Teil mit einer Hand und den unteren mit der anderen, dann leerte sie den Krug über dem Bett aus, größtenteils in Kerims Gesicht, bevor sie sich auf die hüfthohe Liegefläche hievte.
Mit dem leeren Porzellangefäß in der Hand balancierte sie auf der Bettkante. Zu ihrer Erleichterung setzte sich Kerim langsam auf und schüttelte sich das Wasser aus den Haaren; der stumpfe Ausdruck der Verzauberung wich aus seinen Augen. Lady Skys Lippen verzerrten sich vor blanker Wut.
Sham wusste, dass sie sich wie eine Wahnsinnige gebärdete, doch genau diese Wirkung wollte sie erzielen. Sie musste sich wie eine verschmähte Frau benehmen, die eine andere im Bett ihres Mannes vorgefunden hatte – nicht wie eine entsetzte Magierin, die auf einen Dämon gestoßen war. Genau genommen war sie beides, doch sie verdrängte ihre Angst durch die Hoffnung, dass der Dämon nicht gewillt sein würde, seine Tarnung aufzugeben.
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