Ihr habt einen Tag, um Euch zu entscheiden. Denkt gut darüber nach. Eure Mutter hielt das für den besten Weg, und sie war eine kluge Frau. Das Kaiserreich bedeutet Stabilität. Eine Rebellion bedeutet nur unendliches Leid, Hunger und am Ende in Vergessenheit zu geraten. Das ist nicht das Zeitalter, um allein zu sein, Beslan.«
Sie lehnte sich zurück, während Beslan die Tasche in seinen Händen betrachtete. Er verneigte sich, um darum zu bitten, gehen zu können, auch wenn es nur eine unbeholfene Bewegung war, als wäre er abgelenkt.
»Ihr dürft gehen«, informierte sie ihn.
Er machte aber keine Anstalten zu gehen. Angespannte Stille herrschte, während er die Tasche anstarrte. Sie konnte ihm seinen inneren Kampf vom Gesicht ablesen. Ein Da'covale kam näher, um ihn zum Gehen zu drängen, da er entlassen worden war, aber Tuon hob die Hand und gebot dem Diener Einhalt.
Sie beugte sich wieder vor, mehrere Angehörige des Blutes schabten ungeduldig mit den Füßen. Beslan starrte bloß die Tasche an. Schließlich schaute er auf, einen entschlossenen Ausdruck in den Augen. Dann kniete er überraschenderweise erneut nieder.
»Ich, Beslan von Haus Mitsobar, schwöre der Tochter der Neun Monde und durch sie dem seanchanischen Kaiserreich meine Treue und meinen Dienst, jetzt und für alle Zeit, es sei denn, sie entlässt mich daraus aus eigenem, freien Willen. Meine Ländereien und mein Thron gehören ihr, ich trete sie an ihre Hand ab. Das schwöre ich beim Licht!«
Tuon gestattete sich ein Lächeln. Generalhauptmann Galgan trat hinter Beslan hervor und sprach den König an. »Das ist nicht die richtige Weise, wie man ...«
Tuon brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. »Wir verlangen, dass sein Volk sich unseren Bräuchen anpasst, General«, sagte sie. »Da ist es durchaus angebracht, wenn wir einige der ihren akzeptieren.« Natürlich nicht zu viele. Diese Erkenntnis verdankte sie ihren langen Unterhaltungen mit Frau Anan. Möglicherweise war es ein Fehler gewesen, diese Menschen dazu zu bringen, seanchanische Gehorsamseide zu schwören. Matrim hatte diese Eide geleistet, sie dann aber bequemerweise ignoriert, als der Augenblick gekommen war - und doch hatte er das Wort gehalten, das er ihr persönlich gegeben hatte, und seine Männer hatten ihr versichert, dass er ein Mann von Ehre war.
Wie seltsam, dass sie bereit waren, einen Eid über den anderen zu stellen. Diese Menschen waren merkwürdig. Aber sie würde lernen müssen, sie zu verstehen, wenn sie sie beherrschen wollte - und sie würde sie beherrschen müssen, um Kräfte für ihre Rückkehr nach Seanchan zu sammeln.
»Euer Eid erfreut mich, König Beslan. Ich erhebe Euch ins Hohe Blut und verleihe Euch und Eurem Haus die Vorherrschaft über das Königreich Altara, jetzt und für alle Zeiten, Euer Wille für seine Verwaltung und Regierung unterliegt nur dem Kaiserthron selbst. Erhebt Euch.«
Er stand auf, und seine Knie schienen zu zittern. »Seid Ihr sicher, dass ihr keine Ta'veren seid, meine Lady?«, fragte er. »Denn ich habe mit Sicherheit nicht erwartet, das zu tun, als ich eintrat.«
Ta'veren. Diese Leute und ihr alberner Aberglauben! »Ich bin zufrieden mit Euch«, sagte sie zu ihm. »Eure Mutter habe ich nur kurz gekannt, aber ich fand sie ausgesprochen fähig. Ich hätte keine Freude daran gehabt, gezwungen zu sein, ihren einzigen Sohn hinzurichten.«
Er nickte anerkennend. An der Seite signalisierte Selucia verstohlen: Das war gut geregelt. Vielleicht etwas unkonventionell, aber geschickt gemacht.
Tuon verspürte ein warmes Gefühl von Stolz. Sie wandte sich dem weißhaarigen General Galgan zu. »General. Ich weiß, dass Ihr darauf gewartet habt, mit mir sprechen zu können, und Eure Geduld ist lobenswert. Ihr dürft jetzt sagen, was Euch beschäftigt. König Beslan, Ihr dürft Euch zurückziehen oder bleiben. Es ist Euer Recht, an jeder öffentlichen Audienz teilzunehmen, die ich in Eurem Königreich abhalte, und Ihr braucht dazu weder eine Erlaubnis noch eine Einladung.«
Beslan nickte, verneigte sich, begab sich dann aber an die Seite des Raumes, um zuzusehen.
»Vielen Dank, Höchste Tochter«, sagte Galgan ehrfurchtsvoll und trat vor. Er gab seinen So'jhin ein Zeichen, die draußen im Korridor warteten. Sie traten ein - warfen sich zuerst vor Tuon zu Boden -, dann stellten sie schnell einen Tisch auf und rollten Karten aus. Ein Diener brachte Galgan ein Bündel, das dieser dann entgegennahm, um damit auf Tuon zuzugehen. Karede stand im nächsten Augenblick an ihrer rechten Schulter, Selucia an ihrer linken, aber Galgan hielt eine respektvolle Distanz ein. Er verneigte sich und rollte den Gegenstand auf dem Boden aus. Es war ein rotes Banner mit einem Kreis in der Mitte, der von einer Schlangenlinie geteilt wurde. Die eine Hälfte des Kreises war schwarz, die andere weiß.
»Was ist das?«, fragte Tuon und beugte sich vor.
»Das Banner des Wiedergeborenen Drachen«, sagte Galgan. »Er schickte es mit einem Boten, mit der erneuten Bitte um ein Treffen.« Er schaute auf - erwiderte dabei aber nicht ihren Blick, zeigte jedoch eine nachdenkliche, besorgte Miene.
»Als ich heute Morgen aufstand«, sagte Tuon, »da sah ich am Himmel ein Muster, das drei Türmen ähnelte, und einen Falken hoch in der Luft, der zwischen ihnen durchflog.«
Die verschiedenen Angehörigen des Blutes im Raum nickten anerkennend. Allein Beslan erschien verwirrt. Wie schafften es diese Leute nur zu leben, wenn sie keine Omen erkannten? Verspürten sie denn nicht den Wunsch, die Schicksalsvisionen zu verstehen, die ihnen das Muster schenkte? Der Falke und die drei Türme waren ein Omen, das schwierige Entscheidungen anstanden. Ein Hinweis, dass Kühnheit gefragt war.
»Was haltet Ihr von der Bitte des Wiedergeborenen Drachen, ein Treffen durchzuführen?«, fragte sie den General.
»Möglicherweise wäre es unklug, diesem Mann gegenüberzutreten, Höchste Tochter. Ich bin mir nicht sicher, ob sein Anspruch auf diesen Titel gerechtfertigt ist. Davon abgesehen, hat das Kaiserreich im Augenblick nicht genug andere Sorgen?«
»Ihr fragt Euch, warum unsere Streitkräfte nicht den Rückzug angetreten haben«, sagte Tuon. »Warum wir nicht nach Seanchan aufgebrochen sind, um den Thron zu sichern.«
Er neigte den Kopf. »Ich vertraue Eurer Weisheit, Höchste Tochter.«
»Das ist der Wiedergeborene Drache. Und kein Hochstapler. Davon bin ich überzeugt. Er muss sich vor dem Kristallthron verbeugen, bevor die Letzte Schlacht ihren Anfang nehmen kann. Darum müssen wir bleiben. Es ist kein Zufall, dass die Wiederkehr jetzt geschieht. Wir werden hier gebraucht. Leider mehr, als wir in unserer Heimat gebraucht werden.«
Galgan nickte langsam. Er war mit ihr einer Meinung, dass der Rückzug nach Seanchan nicht infrage kam; er war einfach davon ausgegangen, dass das ihr Wunsch war. Indem sie verkündete, dass sie blieben, hatte sie sich seinen Respekt verdient. Natürlich würde er weiter darüber nachdenken, den Thron für sich selbst zu erobern. Ein Mann konnte nicht seine Position erreichen, ohne eine gehörige Portion Ehrgeiz zu haben.
Aber er war nicht nur als ambitionierter Mann bekannt, sondern auch als ein besonnener. Er würde nicht zuschlagen, solange er nicht davon überzeugt war, dass es nötig war. Er würde der festen Überzeugung sein müssen, dass er große Aussicht auf Erfolg hatte und dass das Kaiserreich durch Tuons Entfernung profitierte. Das war der Unterschied zwischen einem ehrgeizigen Narren und einem ehrgeizigen weisen Mann. Der Letztere verstand, dass jemanden zu töten erst der Anfang war. Tuon ihr Leben zu nehmen und den Thron für sich selbst zu beanspruchen würde ihm nichts bringen, wenn er den Rest des Blutes damit vor den Kopf stieß.
Er begab sich zu dem Tisch mit seinen Karten. »Wenn Ihr den Krieg fortzuführen wünscht, Höchste Tochter, erlaubt mir den Zustand Eurer Armee zu erklären. Einer unserer ambitioniertesten Pläne wird von Generalleutnant Yulan vorbereitet.«
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