In den vergangenen Wochen hatte die Frau mit dem Feuerhaar eine ordentliche Portion ihres Specks verloren. Sie musste sich wirklich ein paar neue Kleider besorgen; die alten fingen an, an ihrem Körper herunterzuhängen. Wenigstens schien sie etwas von ihrer Ruhe wiedergefunden zu haben, erschien weniger fahrig. Vielleicht hatte sich das erledigt, was ihr zu schaffen gemacht hatte. Sie hatte ja immer darauf beharrt, dass ihr nichts fehlte.
»Fischscheiße«, knurrte Siuan, als eine Novizin ihr zufällig den Ellbogen in den Leib rammte. Sie starrte das Mädchen böse an, das in sich zusammensackte und forteilte, zögernd begleitet von ihrer Novizinnenfamilie. Siuan wandte sich Sheriam zu. »Also, was ist es? Hat sich einer der Pferdeburschen als der König von Tear entpuppt?«
Sheriam hob eine Braue. »Elaida kann Reisen.«
»Was?« Siuan warf einen Blick ins Zelt. Die Sitze waren mit Aes Sedai gefüllt, und die schlanke Ashmanaille von den Grauen sprach gerade. Warum war diese Zusammenkunft nicht Versiegelt worden?
Sheriam nickte. »Wir haben es herausgefunden, als Ashmanaille ausgesandt wurde, um in Kandor den Tribut zu holen.« Tribute waren eine der Haupteinnahmequellen von Egwenes Aes Sedai. Viele Jahrhunderte lang hatte jedes Königreich derartige Zuwendungen nach Tar Valon geschickt. Die Weiße Burg war nicht länger auf dieses Einkommen angewiesen - ihr standen viel bessere Möglichkeiten zur Verfügung, sich zu finanzieren, Möglichkeiten, die nicht von der Großzügigkeit anderer abhängig waren. Dennoch lehnte man solche Zuwendungen nicht ab, und viele Königreiche in den Grenzlanden folgten noch immer den alten Bräuchen.
Vor der Spaltung der Weißen Burg hatte eine von Ashmanailles Pflichten darin bestanden, diese Spenden zu verwalten und im Namen der Amyrlin monatliche Dankschreiben zu versenden. Die Spaltung und die Entdeckung des Reisens hatten es für Egwenes Aes Sedai sehr einfach gemacht, Delegationen zu schicken und die Tribute persönlich abzuholen. Dem Schatzmeister der Kandori war es egal, welche der beiden Parteien er unterstützte, solange der Tribut nur geschickt wurde, und er hatte das Geld auch gern Ashmanaille persönlich ausgehändigt.
Die Belagerung von Tar Valon hatte es vereinfacht, dieses Geld von den Tributen abzuzweigen, die sonst an Elaida gegangen wären, und man hatte damit Brynes Soldaten bezahlt. Eine hübsche Wendung des Schicksals. Aber kein Meer blieb ewig ruhig.
»Der Schatzmeister war sehr aufgebracht«, berichtete Ashmanaille in ihrem sachlichen Tonfall. »›Ich habe diesen Monat bereits gezahlt‹, sagte er zu mir. ›Das Geld habe ich dieser Frau gegeben, die erst gestern kam. Die Frau hatte einen Brief von der Amyrlin, der das rechtmäßige Siegel trug und mich anwies, das Geld nur einer Angehörigen der Roten Ajah auszuhändigen‹.«
»Das besagt nicht mit Sicherheit, dass Elaida Reisen kann«, meinte Romanda im Inneren des Zeltes. »Die Rote Schwester könnte auch auf andere Weise nach Kandor gekommen sein.«
Ashmanaille schüttelte den Kopf. »Sie haben das Wegetor gesehen. Der Schatzmeister entdeckte einen Rechenfehler und schickte Elaidas Delegation einen Schreiber hinterher, um ihnen ein paar zusätzliche Münzen zu geben. Der Mann beschrieb perfekt, was er dort sah. Die Pferde ritten durch ein schwarzes Loch in der Luft. Es hat ihn so sehr verwirrt, dass er die Wache rief - aber da waren Elaidas Leute schon fort. Ich habe ihn selbst befragt.«
»Ich halte nichts davon, sich auf das Wort eines einzigen Mannes zu verlassen«, meinte Moria, die ziemlich weit vorn saß.
»Der Schatzmeister hat die Frau genau beschrieben, der er das Geld gab. Ich bin sicher, dass es Nesita war. Vielleicht könnten wir herausfinden, ob sie in der Burg ist? Dann hätten wir einen weiteren Beweis.«
Die anderen erhoben weitere Bedenken, aber Siuan hörte nur noch mit halbem Ohr zu. Vielleicht war das eine sehr kluge List, um sie abzulenken, aber dieses Risiko konnten sie nicht eingehen. Beim Licht! War sie denn die Einzige, die einen Kopf auf den Schultern sitzen hatte?
Sie schnappte sich die nächste Novizin, ein maushaftes Mädchen, das vermutlich älter war, als es aussah - das musste sie auch sein, denn sie sah nicht älter als neun aus. »Ich brauche einen Kurier«, sagte sie. »Holt einen der Kuriere, die Lord Bryne im Lager stationiert hat, um ihm etwas mitzuteilen. Schnell .«
Das Mädchen quiekte leise und rannte los.
»Worum ging es?«, fragte Sheriam.
»Darum, unser Leben zu retten«, erwiderte Siuan und starrte die dicht zusammengedrängt stehenden Novizinnen finster an. »Also gut!«, knurrte sie. »Genug geglotzt! Sollte euer Unterricht wegen dieses Fiaskos ausgefallen sein, dann sucht euch etwas zu tun. Jede Novizin, die noch in zehn Sekunden auf diesem Weg steht, wird Buße tun, bis sie nicht mehr geradeaus gucken kann!«
Das löste einen weißen Massenexodus aus, als die Familien aus Frauen loseilten. Augenblicke später standen dort nur noch die kleine Gruppe Aufgenommene sowie Sheriam und Siuan. Die Aufgenommenen zuckten zusammen, als Siuan sie ansah, aber sie sagte nichts. Aufgenommene genossen unter anderem das Privileg größerer Freiheiten. Davon abgesehen war Siuan zufrieden, wenn sie sich bewegen konnte, ohne ständig mit jemanden zusammenzustoßen.
»Warum wurde die Zusammenkunft nicht Versiegelt?«
»Das weiß ich nicht«, gab Sheriam zu und warf einen Blick in das große Zelt. »Das sind beängstigende Neuigkeiten, wenn es denn stimmt.«
»Das musste irgendwann geschehen«, meinte Siuan, auch wenn sie innerlich nicht annähernd so ruhig war, wie ihre Worte hätten vermuten lassen. »Die Nachricht über das Reisen musste sich verbreiten.«
Was ist geschehen?, dachte sie. Sie haben Egwene doch nicht gebrochen, oder? Helfe das Licht, dass weder sie noch Leane gezwungen waren, dieses Geheimnis zu verraten. Beonin. Sie muss es gewesen sein. Soll sie zu Asche verbrennen!
Sie schüttelte den Kopf. »Möge das Licht dafür sorgen, dass wir das Reisen vor den Seanchanern geheim halten können. Wenn sie die Weiße Burg angreifen, dann werden wir zumindest diesen Vorteil brauchen.«
Sheriam musterte sie skeptisch. Die meisten Schwestern glaubten nicht an Egwenes Traum von dem Angriff. Närrinnen - sie wollten den Fisch fangen, aber ihn ausnehmen wollten sie nicht. Man erhob eine Frau nicht zur Amyrlin, um dann ihre Warnungen zu ignorieren.
Siuan wartete ungeduldig und tippte mit dem Fuß auf, lauschte der Unterhaltung im Zelt. Gerade als sie anfing, sich zu fragen, ob sie noch eine Novizin schicken sollte, ritt einer von Brynes Kurieren auf das Zelt zu. Die schlecht gelaunte Bestie, auf der er saß, war mitternachtsschwarz mit weißen Flecken direkt über den Hufen, und sie schnaubte Siuan an, als der Reiter anhielt. Er trug eine ordentliche Uniform und hatte kurz geschnittenes braunes Haar. Musste er diese Kreatur unbedingt mitbringen?
»Aes Sedai?«, fragte der Mann und verneigte sich auf dem Pferderücken vor ihr. »Ihr habt eine Botschaft für Lord Bryne?«
»Ja«, sagte Siuan. »Und sorgt dafür, dass sie so schnell wie möglich überbracht wird. Habt Ihr verstanden? Unser aller Leben hängt davon ab.«
Der Soldat nickte knapp.
»Sagt Lord Bryne ...«, fing Siuan an. »Sagt ihm, er soll auf seine Flanken achten. Unser Feind hat die Methode gelernt, die wir benutzt haben, um herzukommen.«
»Das wird erledigt.«
»Wiederholt sie mir«, verlangte Siuan.
»Natürlich, Aes Sedai.« Der schlanke Mann verneigte sich erneut. »Nur damit Ihr es wisst, ich bin schon über ein Jahrzehnt Kurier beim Kommando des Generals. Mein Gedächtnis ...«
»Halt«, unterbrach ihn Siuan. »Mir ist egal, wie lange Ihr das schon macht. Mir ist egal, wie gut Euer Gedächtnis ist. Mir ist egal, ob Ihr durch eine Laune des Schicksals dieselbe Botschaft schon tausendmal zuvor überbracht habt. Ihr werdet sie mir jetzt wiederholen.«
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