Das war der Stoff, aus dem Geschichten und Legenden entstanden - zumindest bei normalen, geringeren Männern. Für einen Behüter war Sleetes Geschichte beinahe schon Alltag. Männer wie er zogen Legenden an wie gewöhnliche Männer Fliegen. Tatsächlich hatte Sleete seine Geschichte auch gar nicht erzählen wollen; es war nur den hartnäckigen Fragen der Jünglinge zu verdanken, dass sie überhaupt ans Licht des Tages gekommen war. Er benahm sich trotzdem, als gäbe es über sein Überleben nichts zu prahlen. Er war Behüter. Im Angesicht unüberwindlicher Hindernisse zu überleben, im Delirium meilenweit durch unwirtliches Gelände zu reiten, mit noch nicht völlig verheilten Wunden eine ganze Bande niederzumachen - solche Dinge tat man eben als Behüter.
Gawyn respektierte sie. Selbst die, die er getötet hatte. Vor allem die, die er getötet hatte. Nur ein außergewöhnlicher Mann zeigte diesen Einsatz, diese Umsicht. Diese Bescheidenheit. Während Aes Sedai die Welt manipulierten und Ungeheuer wie Rand al'Thor den Ruhm ernteten, verrichteten Männer wie Sleete das Werk von Helden, und zwar jeden Tag. Ohne dafür Ruhm oder Anerkennung zu bekommen. Wenn man sich an sie erinnerte, dann für gewöhnlich nur in Zusammenhang mit ihrer Aes Sedai. Oder andere Behüter taten es. Seinesgleichen vergaß man nicht.
Sleete griff an, das Schwert stach in einem geraden, mit maximaler Geschwindigkeit ausgeführten Stoß nach vorn. Die Natter züngelt, ein mutiger Stoß, dessen Effektivität noch durch die Tatsache erhöht wurde, dass Sleete mit dem schmalen kleinen Mann zusammen kämpfte, der Gawyn auf der linken Seite umging. Marlesh war der einzige andere Behüter in Dorlan - und seine Ankunft war viel undramatischer als Sleetes gewesen. Marlesh hatte die ursprüngliche Gruppe der elf Aes Sedai begleitet, die bei Dumai entkommen waren, und er war die ganze Zeit bei ihnen geblieben. Seine Aes Sedai, eine hübsche junge Grüne namens Vasha, eine Domani, sah träge von der Scheunenwand zu.
Gawyn begegnete Die Natter züngelt mit Katze tanzt an der Wand, schlug die Klinge zur Seite und hieb aus der gleichen Bewegung nach den Beinen. Allerdings sollte damit kein Treffer erzielt werden; es war ein defensives Manöver, das ihn in die Lage versetzen sollte, beide Gegner im Auge zu behalten. Marlesh versuchte es mit Den Leoparden liebkosen, aber Gawyn nahm Die Luft falten ein, wehrte den Schlag ab und wartete auf Sleetes nächsten Angriff, denn er war der gefährlichere der beiden. Sleete nahm mit geschmeidigen Schritten eine neue Haltung ein, die Klinge nach unten an der Seite gehalten, während er die großen Heuballen im hinteren Teil der stickigen Scheune hinter sich brachte.
Gawyn schritt in Katze auf heißem Sand, während Marlesh es mit Kolibri küsst die Honigrose versuchte. Kolibri war nicht die richtige Figur für so einen Angriff, sie nutzte nur selten etwas gegen einen defensiv kämpfenden Mann, aber Marlesh hatte es offensichtlich satt, immer nur abgewehrt zu werden. Er wurde ungeduldig. Gawyn konnte das benutzen. Und das würde er auch tun.
Sleete rückte wieder vor. Gawyn brachte das Schwert wieder in Abwehrstellung, als die beiden Behüter gemeinsam vorrückten. Er ging sofort zu Apfelblüten im Wind über. Seine Klinge blitzte dreimal auf, drängte den ungläubig schauenden Marlesh zurück. Marlesh fluchte, warf sich nach vorn, aber Gawyn führte das Schwert aus der vergangenen Figur und glitt anmutig in Tau vom Ast schütteln hinein. Er trat vor und führte eine Reihe von sechs kurzen Hieben aus, warf Marlesh zurück und zu Boden - der Mann war viel zu schnell wieder in den Kampf getreten -, und zwang Sleetes Schwert zwei Mal zur Seite und endete damit, dem Mann die Klinge an den Hals zu halten.
Die beiden Behüter blickten Gawyn fassungslos an. Als er sie das letzte Mal besiegt hatte, hatten sie ähnlich geblickt, und bei dem Mal davor auch. Sleete trug eine Klinge mit dem Reiherzeichen und war in der Weißen Burg beinahe eine Legende für sein Können. Es hieß, er hätte sogar Lan Mandragoran zweimal bei sieben Durchgängen besiegt, damals, als dieser noch mit den anderen Behütern Übungskämpfe absolviert hatte. Marlesh war nicht so angesehen wie sein Gefährte, aber er war trotzdem ein fähiger und gut ausgebildeter Behüter, kein leichter Gegner.
Aber Gawyn hatte gewonnen. Schon wieder. Wenn er übte, erschienen die Dinge so einfach. Die Welt zog sich zu etwas Kleinerem zusammen, das man leichter aus der Nähe betrachten konnte. Er hatte nie etwas anderes gewollt, als Elayne zu beschützen. Er wollte Andor verteidigen. Vielleicht lernen, etwas mehr wie Galad zu sein.
Warum konnte das Leben nicht so einfach wie ein Schwertkampf sein? Klare Gegner, die ordentlich aufgereiht vor einem standen. Der Gewinn offensichtlich: Überleben. Wenn Männer miteinander kämpften, erschufen sie auch eine Verbindung. Man wurde zu Brüdern, während man Hiebe austauschte.
Gawyn hob die Klinge und trat zurück, schob das Schwert in die Scheide. Er hielt Marlesh die Hand hin, der sie ergriff und kopfschüttelnd aufstand. »Ihr seid bemerkenswert, Gawyn Trakand. Wenn Ihr Euch bewegt, seid Ihr wie ein Geschöpf aus Licht, Farbe und Schatten. Wenn ich Euch gegenübertrete, komme ich mir vor wie ein Knabe mit einem Stock der Hand.«
Sleete steckte sein Schwert schweigend weg, aber er nickte Gawyn respektvoll zu - genau wie die letzten beiden Male, als sie miteinander gekämpft hatten. Er war ein Mann weniger Worte. Gawyn wusste das zu schätzen.
In der Scheunenecke stand ein zur Hälfte gefülltes Wasserfass, und die Männer gingen dorthin. Corbet, einer der Jünglinge, tauchte eilig eine Schöpfkelle hinein und reichte sie Gawyn. Gawyn gab sie an Sleete weiter. Der ältere Mann nickte wieder und trank, während Marlesh einen Becher von der staubigen Fensterbank nahm und sich selbst etwas zu trinken holte. »Trakand«, fuhr er fort, »wir müssen für Euch eine Reiherklinge finden. Niemand sollte Euch gegenübertreten müssen, ohne vorher zu wissen, worauf er sich einlässt!«
»Ich bin kein Schwertmeister«, entgegnete Gawyn leise, nahm von Sleete die Kelle entgegen und trank. Das Wasser war warm, was sich gut anfühlte. Natürlicher.
»Ihr habt Hammar getötet, richtig?«, fragte Marlesh.
Gawyn zögerte. Das Gefühl von Klarheit, das er während des Kampfes verspürt hatte, bröckelte bereits. »Ja.«
»Nun, dann seid Ihr ein Schwertmeister«, sagte Marlesh. »Ihr hättet sein Schwert nehmen sollen.«
»Das wäre nicht respektvoll gewesen«, erwiderte Gawyn. »Davon abgesehen hatte ich keine Zeit, Beute zu machen.«
Marlesh lachte, als wäre das ein Witz gewesen, aber Gawyn hatte es ernst gemeint. Er warf einen Blick zu Sleete hinüber, der ihn neugierig musterte.
Stoffgeraschel kündigte Vashas Näherkommen an. Die Grüne hatte langes schwarzes Haar und bemerkenswerte grüne Augen, die manchmal beinahe katzengleich zu funkeln schienen. »Hast du genug gespielt, Marlesh?«, fragte sie. Ihr Domani-Akzent war kaum hörbar.
Marlesh kicherte. »Du solltet glücklich sein, mir beim Spielen zusehen zu können, Vasha. Wenn ich mich richtig erinnere, hat dir mein Spiel auf dem Schlachtfeld einige Male den Hals gerettet.«
Sie schnaubte und hob eine Braue. Gawyn war nur wenigen Aes Sedai und Behütern begegnet, die eine so lässige Beziehung hatten wie diese beiden. »Komm«, sagte sie, drehte sich auf dem Absatz um und ging auf das offen stehende Scheunentor zu. »Ich will sehen, was Narenwin und die anderen so lange im Haus gehalten hat. Es riecht nach getroffenen Entscheidungen.«
Marlesh zuckte mit den Schultern und warf Corbet den Becher zu. »Was auch immer sie entscheiden, ich hoffe, es hat mit der Weiterreise zu tun. Es gefällt mir nicht, in dieser Stadt herumzusitzen, während sich diese Soldaten anschleichen. Wenn die Anspannung in diesem Lager noch größer wird, dann laufe ich vermutlich weg und schließe mich den Kesselflickern an.«
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