Der Chief, Yi, lieferte gerade seinen Tagesbericht über den Zustand der Gefangenen. Die Liste von Verletzungen — zerquetschte und »lediglich« gebrochene Knochen, Schnitte, Prellungen und Verbrennungen — ließ vor seinem inneren Auge schreckliche Bilder entstehen. Zuallererst hatten sie die Serie von Vergewaltigungen fortgesetzt, ihr aber vorher einen Knebel in den Mund gesteckt. Das machte es ihr zwar unmöglich, Informationen zu liefern, aber offenbar hatten diese Mistkerle entschieden, dass sie ihr einfach den Triumph nicht gönnen durften, jene psychologische Schlacht zu gewinnen. Und wenn er sich in die Gedankengänge dieser Dreckskerle hineinversetzte, konnte er das sogar begreifen. Trotzdem würde er jeden Einzelnen von ihnen umbringen, auch wenn er begriff, weshalb sie es getan hatten.
Das Schlimmste, was ihm seit Jahren widerfahren war, abgesehen davon natürlich, dass er zuallererst die MPs auf sie hatte ansetzen müssen, war, am Ende des Tages nach Hause gehen zu müssen und dabei völlig normal zu wirken. Er hatte ihnen zugesehen, wie sie das Licht ausschalteten, die Schwerkraft für die Nacht auf null herunterfuhren und sie auf ihrer fahrbaren Trage festgeschnallt ließen. Sie hatten ihr galaktisches Decameth injiziert — das C von Provigil-C minus Provigil. Und dann hatte er kehrtmachen und mit seinem Rollstuhl durch die Tür hinausfahren müssen, gefolgt von seinem eigenen Arzt, der neben dem Monstrum von Fleet wie ein Heiliger aussah.
Basis Titan
Mittwoch, 19. Juni, 19:00
Tommy saß in dem kleinen Raum auf dem Bett und wartete. Er hielt einen kleinen weißen, an einer Seite offenen Behälter von der Größe einer Zigarrenschachtel in der Hand. An seinem Gürtel hing ein sauberes AID, es sah aus wie jedes andere AID. Heute war das seine wichtigste Aufgabe. Er trug graue Seide mit den Rangabzeichen und den Bezeichnungen seiner Einheit, der er vor langer Zeit angehört hatte. Wenn ihn überlebende Angehörige der Triple-Nickel-GKA sahen, würde das auf sie wirken, als sähen sie ein Gespenst. Er hatte seine damalige Haar- und Augenfarbe wiederhergestellt, wobei er ohnehin nicht so viele Änderungen im Gesicht gebraucht hatte wie Cally oder Papa. Oh, er war anders — aber nicht so anders, wenn er das nicht sein wollte. Und sein Körperbau war ohnehin ziemlich schwer zu tarnen.
Von den beiden leer stehenden Räumen am Flur, wo früher Lieutenant Pryce und jetzt ein General wohnten, dem das System bis zur Stunde noch keine neuen Räume hatte zuweisen können, hatten er und Papa den gewählt, der am nächsten bei der Transitstation lag. Nicht, dass es viel zu bedeuten gehabt hätte. Einer war so gut wie der andere. Oben am Türstock klebte eine winzige Kamera.
Papa O’Neal saß auf dem Stuhl und beobachtete den Flur auf dem Bildschirm seines PDA. Tatsächlich sah er die letzten fünf Minuten im Schnellvorlauf, da die Kamera ihre verschlüsselte Sendung nur dann durchgab, wenn sie etwas erfasste und sie auch keine besonders hohe Auflösung brauchten.
»Scheiße.«
»Was?« Tommys Augen suchten die des Älteren.
»Er sitzt in einem Rollstuhl und hat jemanden bei sich. Einen Arzt, wie es scheint.« Er betastete abwesend seine Taschen, runzelte dann die Stirn und rieb sich das Kinn.
»Äh … wenn Cally ihm das angetan hat, könnte das sein Mitgefühl etwas beeinträchtigen.« Tommy sah über seine Schulter und zuckte zusammen. »Besonders gut sieht der nicht aus.«
»Wenn du einen besseren Tipp hast, kannst du es ja sagen«, knurrte Papa O’Neal und legte den PDA einen Augenblick auf den Tisch, stand auf und ging wieder unruhig auf und ab. »Vielleicht kommen wir heute Abend gar nicht an ihn heran.«
»Er hatte nie viel für Ärzte übrig«, erinnerte sich Tommy. »Vielleicht schmeißt er ihn raus. Ich sehe keinen Grund, nicht wenigstens bis Mitternacht zu warten.«
»Einverstanden.« Er setzte sich wieder hin, wippte freilich in für ihn ungewöhnlicher Nervosität mit dem Fuß.
Sie brauchten nicht lange zu warten, denn der Arzt ließ Stewart allein und verschwand durch die Tür der Transitbahn.
»Tommy?«
»Mhm?«
»Ich hätte nie vermutet, dass er Ärzte nicht mag. Gehen wir.« Der Rothaarige schob seinen PDA ein und ging weg, ohne sich umzusehen.
»Ja. Das wird verrückt.« Tommy rieb sich die Hände an seinem Seidenzeug, räusperte sich und folgte dem Älteren nach draußen. Dies war das erste Mal seit fünfundzwanzig Jahren, dass er einen alten Freund ansprechen würde, der fest davon überzeugt war, dass er tot war. Denk dir nicht zu viel dabei. Tu es einfach.
Er drückte den Klingelknopf und wartete, bis das Licht der Sprechanlage aufleuchtete, räusperte sich erneut. »Triple-Nickel-Pizzadienst. Eine große Pizza Fajita mit gebackenen Bohnen für Manuel«, sagte er.
»Was?«
Die Tür schob sich auf, und Tommy nahm sein AID vom Gürtel, hielt es über die Box, sah Stewart an, legte es hinein und reichte die Box dann Stewart. Sein alter Kumpel wurde blass, dann verzog sich sein Gesicht in einer seltsamen Mischung aus Verblüffung und Schock, aber er nahm die Box entgegen, legte sein eigenes AID hinein und drückte den Deckel zu. Er gab Tommy die Box nicht zurück.
»Wir müssen miteinander reden, Stewart. Unter uns. Dürfen wir reinkommen?«
»Ja, das solltet ihr wohl.« Er seufzte, rollte von der Tür weg, ließ sie ein und wartete, während die Tür sich wieder hinter ihnen schloss.
»Ich habe noch nie einen Toten gesehen, der so gesund aussieht wie du. Und dein Gesicht hat jemand offenbar so weit geändert, dass man damit einen Softwarescann täuschen kann. So. Würdet ihr mir wohl sagen, was da gespielt wird?« Er rollte zu einem Tisch, nahm ein Päckchen Zigaretten, das dort lag, bot an und zündete sich dann selbst eine an.
»Das wird eine lange Geschichte. Zuerst wollen wir uns vorstellen. Stewart, Mike O’Neal senior, Papa O’Neal, General James Stewart. Wie du weißt, haben wir im Krieg beide unter deinem Sohn gedient«, sagte er.
»Da nimmst du den Mund ganz schön voll. Und selbst, wenn das stimmt, würdest du eine verdammt gute Erklärung dafür brauchen, Mike so lange in dem Glauben zu lassen, dass sein Dad tot sei. Ich halte das nicht für möglich.« Er nahm einen langen Zug an seiner Zigarette und wartete.
»Oh, ich habe mich natürlich runderneuern lassen. Und kosmetisch wesentlich aufwändiger behandeln lassen als Tommy. Bei jemandem, der so groß ist wie er, hat das ja wenig Sinn — man sorgt einfach dafür, dass ihn nicht zu viele zu sehen bekommen, und setzt ihn anderweitig ein. Und was das andere betrifft, würde Mike, wenn er es wüsste, sofort bestätigen, dass das notwendig war.«
»Hör zu, ich habe einen schweren Tag hinter mir, also erspar mir all das verdrehte Gerede. Geht das?«
»Okay, ich kenne O’Neal senior jetzt seit fünfundzwanzig Jahren. Es gibt dafür verdammt gute Gründe, aber ob du die zu hören bekommst, hängt davon ab, wie sich dieses Gespräch weiter entwickelt. Vertrau mir einen Augenblick lang, ja? Du hast eine Gefangene in deinem Gefängniskomplex.« Er wies auf den Rollstuhl und Stewarts nicht übersehbare Verletzungen. »Hat sie das getan?«
»Nein. Was weißt du über sie?« Er beugte sich eine Spur zu schnell vor und zuckte zusammen, griff sich mit der Hand an den Bauch.
»Sie ist die Tochter von Iron Mike.« Tommy war froh, dass Papa ihn reden ließ. Er würde Stewart einiges mehr sagen müssen, ehe der ihnen vertraute, und das konnten sie erst tun, wenn sie eine bessere Vorstellung von seiner Reaktion hatten.
»Verdammte Scheiße! Wollt ihr mich verarschen?« Das war offensichtlich ein weiterer Schock. Tommy hoffte, dass Stewarts Zustand stabil genug war, um der Belastung gewachsen zu sein. Andererseits — der Arzt hätte ihn wohl nicht allein gelassen, wenn das nicht der Fall gewesen wäre.
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