Allerdings war er dafür entschädigt worden. Auf zarte, tiefe, besinnliche und äußerst ermunternde Weise entschädigt worden. In seiner Brieftasche hatte er Doreen Andertons Adresse und Telefonnummer.
Sollte er sie heute abend anrufen? Man stelle sich vor, dachte er, jemanden zu finden, und dann noch eine Frau, mit der er ungezwungen reden konnte, die seinen Zustand verstand, die wirklich mehr darüber erfahren wollte und keine Angst hatte.
Das half sehr.
Seine Frau war die letzte auf der Welt, mit der er über seine Schizophrenie reden konnte; bei den paar Malen, die er es versucht hatte, war sie vor Angst fast zusammengebrochen. Wie allen anderen graute es Silvia bei der Vorstellung, daß die Krankheit auch in ihr Leben einbrechen könnte; sie selbst wendete das durch das Zaubermittel der Drogen ab ... als ob Luminal den universellsten, verhängnisvollsten psychischen Prozeß, der der Menschheit bekannt war, aufhalten könnte. Der Himmel mochte wissen, wie viele Pillen er selbst in den vergangenen zehn Jahren geschluckt hatte, sicher genug, um damit eine Straße von seinem Haus bis zu diesem Hotel - und vielleicht sogar wieder zurück - zu pflastern.
Nach kurzer Überlegung beschloß er, Doreen nicht anzurufen. Besser, er sparte sich das als Ausweg auf, wenn die Wogen besonders hoch schlugen. Im Augenblick fühlte er sich eigentlich ganz gut. Später würde immer noch genug Zeit bleiben, und einen Anlaß gäbe es sicher auch, um Doreen Anderton wieder aufzusuchen.
Selbstverständlich mußte er unglaublich vorsichtig sein; Doreen war offenbar Arnie Kotts Geliebte. Aber sie schien zu wissen, was sie tat, und kannte Arnie genau; sie hatte ihn gewiß einkalkuliert, als sie ihre Telefonnummer und Adresse herausgab, und auch, als sie aufgestanden war und das Restaurant verlassen hatte.
Ich vertraue ihr, sagte sich Jack. Und bei jemandem, der anfallsweise an Schizophrenie leidet, will das schon etwas heißen.
Nachdenklich drückte Jack Bohlen seine Zigarette aus, dann ging er seinen Schlafanzug holen und machte sich bettfertig.
Er war gerade unter die Bettdecke gekrochen, als das Telefon in seinem Zimmer schrillte. Ein Auftrag, dachte er, und sprang unwillkürlich auf, um ihn entgegenzunehmen.
Aber das war es nicht. Eine Frauenstimme flüsterte in sein Ohr: »Jack?«
»Ja«, sagte er.
»Hier ist Doreen. Ich hab mich bloß gefragt - ob mit Ihnen alles in Ordnung ist.«
»Mir geht es gut«, sagte er und setzte sich auf die Bettkante.
»Möchten Sie heute nacht nicht herkommen? Zu mir?«
Er zögerte. »Ahem«, sagte er.
»Wir könnten Schallplatten hören und miteinander reden. Arnie hat mir viele alte Stereo-LPs aus seiner Sammlung geliehen ... einige sind fürchterlich verkratzt, aber manche ganz großartig. Er ist ein großer Sammler, wissen Sie; er hat die größte Bach-Sammlung auf dem Mars. Und Sie haben sicher sein Cembalo gesehen.«
Das war es also gewesen, was da in Arnies Wohnzimmer stand.
»Sind wir ungestört?« fragte er.
»Ja. Machen Sie sich wegen Arnie keine Sorgen; er ist nicht besitzergreifend, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Jack sagte: »Okay. Ich komm rüber.« Und dann fiel ihm ein, daß das gar nicht ging, weil er für KundendienstAnrufe erreichbar sein mußte. Es sei denn, er konnte sie auf ihr Telefon durchstellen.
»Kein Problem«, sagte sie, als er ihr das erklärte. »Ich ruf Arnie an und erzähl's ihm.«
Verblüfft sagte er: »Aber ...«
»Jack, Sie sind nicht recht bei Trost, wenn Sie glauben, daß wir es anders machen könnten - Arnie weiß über alles Bescheid, was in der Siedlung vor sich geht. Überlassen Sie das mir, mein Lieber. Ich ruf ihn sofort an. Und Sie kommen gleich rüber. Wenn hier irgendwelche Anrufe eingehen, während Sie unterwegs sind, notiere ich sie, aber ich glaube nicht, daß welche kommen werden; Arnie will schließlich nicht, daß Sie draußen die Toaster von wildfremden Menschen reparieren, er will Sie für seine eigenen Sachen, für diese Maschine, mit der man sich mit dem Steiner-Jungen unterhalten kann.«
»Okay«, sagte er. »Ich komm rüber. Bis dann.« Er legte den Hörer auf.
Zehn Minuten später war er unterwegs, flog mit seinem hellen, glänzenden Reparaturschiff der Yee Company durch den Nachthimmel des Mars nach Lewistown und zu Arnie Kotts Geliebter.
David Bohlen wußte, daß sein Großvater Leo eine Menge Geld besaß und nichts dagegen hatte, es auszugeben. Zum Beispiel war der alte Mann im strengen Anzug mit Weste und goldenen Manschettenknöpfen - es war der Anzug, nach dem der Junge Ausschau gehalten hatte, als die Passagiere auf der Rampe erschienen waren -, gleich nach Verlassen des Raketenterminals an einem Blumenstand stehengeblieben und hatte für die Mutter des Jungen einen Strauß großer blauer Erdenblumen gekauft. Und David wollte er auch etwas kaufen, aber sie hatten kein Spielzeug, nur Süßigkeiten, die Großvater ihm dann eben kaufte: eine kiloschwere Schachtel.
Unter dem Arm trug Großvater Leo einen weißen, von einer Schnur zusammengehaltenen Karton: Er hatte dem Personal des Raketenschiffs nicht erlaubt, ihn zum übrigen Gepäck zu tun. Als sie das Terminal verlassen hatten und im Hubschrauber seines Dads saßen, öffnete Großvater Leo das Paket. Es war voll mit jüdischem Brot, eingelegten Gurken und hauchdünn geschnittenen Cornedbeefscheiben, die in eine Frischhaltefolie gewickelt waren, im ganzen drei Pfund Corned Beef.
»Meine Güte«, rief Jack erfreut. »Den ganzen Weg von New York. Das kriegt man hier draußen in den Kolonien nicht, Dad.«
»Weiß ich, Jack«, sagte Großvater Leo. »Ein jüdischer Bekannter sagte mir, wo man es bekommt, und ich mag es so sehr, daß ich einfach wußte, du würdest es auch mögen, wo wir beide doch den gleichen Geschmack haben.« Er kicherte vor Freude, als er sah, wie glücklich er sie gemacht hatte. »Sobald wir zu Hause sind, mach ich euch ein Sandwich. Als allererstes.«
Der Hubschrauber stieg jetzt über dem RaketenschiffTerminal auf und flog weiter über die dunkle Wüste.
»Wie ist eigentlich euer Wetter hier?« fragte Großvater Leo.
»Sehr stürmisch«, sagte Jack. »Hat uns vor knapp einer Woche praktisch begraben. Wir mußten uns Maschinen leihen, um alles wieder freizuschaufeln.«
»Schlimm«, sagte Großvater Leo. »Du solltest diese Betonwand hochziehen, die du in deinen Briefen erwähnt hast.«
»Hier draußen etwas bauen zu lassen kostet ein Vermögen«, sagte Silvia, »das ist nicht so wie drüben auf der Erde.«
»Weiß ich«, sagte Großvater Leo, »aber man muß seine Investitionen schützen - dieses Haus ist viel wert, und das Land; ihr habt Wasser in der Nähe, vergeßt das nicht.«
»Wie könnten wir das vergessen?« sagte Silvia. »Großer Gott, ohne den Graben müßten wir sterben.«
»Hat man den Kanal dieses Jahr verbreitert?« fragte Großvater Leo.
»Wie gehabt«, sagte Jack.
David meldete sich zu Wort. »Sie haben ihn ausgebaggert, Großvater Leo. Ich hab zugesehen; die UNLeute haben eine große Maschine benutzt, die den Sand vom Grund gesaugt hat, und jetzt ist das Wasser viel sauberer. Also hat mein Dad das Filtersystem abgeschaltet, und wenn jetzt der Schiffer kommt und das Tor für uns aufmacht, können wir so schnell pumpen, daß mein Dad mir erlaubt hat, einen neuen Gemüsegarten anzulegen, den ich mit dem überlaufenden Wasser fluten kann, und ich hab Mais und Kürbisse und ein paar Karotten, aber irgend etwas hat die ganzen Rüben gefressen. Gestern abend gab's bei uns Mais aus meinem Garten. Wir haben einen Zaun gezogen, um zu verhindern, daß die kleinen Tiere reinkommen - wie heißen sie noch gleich, Dad?«
»Sandratten, Leo«, sagte Jack. »Kaum konnte man in Davids Garten was ernten, da zogen die Sandratten ein. Sie sind irre lang.« Er hielt seine Hände hoch, um es zu zeigen. »Harmlos, nur daß sie in zehn Minuten ihr eigenes Körpergewicht verdrücken können. Die älteren Siedler haben uns gewarnt, aber wir mußten es einfach probieren.«
Читать дальше