Riley schaute ihm jetzt direkt in die Augen, so als könnte sie ihm so ihren Willen aufzwingen.
Manchmal gewann sie, wenn sie ihn zum Blinzeln brachte.
Doch heute war keiner dieser Tage.
Sie blinzelte selbst und musste den Blick abwenden.
Ihr Vater lachte höhnisch und sagte: „Ach, wenn du alleine sein willst, so sei es. Auch ich kann auf deine Gesellschaft gut und gerne verzichten.“
Er drehte sich um und lief in die andere Richtung, den Strand hinab.
Riley drehte sich um und musste mitansehen, wie auch ihre Lieben sich aufmachten, zu gehen – April und Jilly hielten sich an der Hand, Blaine und Crystal machten sich auf ihren eigenen Weg.
Als sie begannen im morgendlichen Nebel zu verschwinden, begann Riley auf die unsichtbare Wand einzuschlagen und zu schreien…
„Kommt zurück! Bitte, kommt zurück! Ich liebe euch alle!“
Ihre Lippen bewegten sich zwar, doch kein Laut kam über sie.
*
Riley riss die Augen auf und fand sich im Bett liegend wieder.
Ein Traum , dachte sie. Ich hätte wissen müssen, dass es nur ein Traum war.
In ihren Träumen begegnete sie ihrem Vater gelegentlich.
Wie hätte sie ihn sonst sehen können, jetzt wo er tot war?
Sie brauchte einen weiteren Augenblick um zu bemerken, dass Tränen ihr über die Wangen liefen.
Die überwältigende Einsamkeit, die Isolation von den Menschen, die sie am meisten auf der Welt liebte, die warnenden Worte ihres Vaters…
„Du bist ein Jäger, genau wie ich.“
Kein Wunder, dass sie in solch einem Zustand aufgewacht war.
Sie griff nach einem Taschentuch und versuchte, ihr Schluchzen zu beruhigen. Doch auch nachdem ihr das gelungen war, wollte das Gefühl der Einsamkeit nicht weichen. Sie machte sich bewusst, dass die Kinder gleich im Zimmer nebenan waren und sie und Blaine entschieden hatten, in getrennten Zimmern zu schlafen.
Doch das half ihr jetzt auch nicht.
So ganz allein in der Dunkelheit hatte sie das Gefühl, dass alle anderen Menschen irgendwo sehr weit weg sein mussten, auf der anderen Seite der Welt.
Sie überlegte kurz, ob sie aufstehen und sich zu Blaine ins Bett schleichen sollte, aber…
Die Kinder.
Sie übernachteten in separaten Zimmern wegen der Kinder.
Sie schüttelte die Kissen neben ihrem Kopf auf und versuchte wieder einzuschlafen, doch die Gedanken konnte sie so leicht nicht abschütteln…
Ein Hammer.
Irgendjemand wurde in Mississippi mit einem Hammer ermordet.
Sie sagte sich, dass es nicht ihr Fall war, und dass sie Brent Meredith eine Absage erteilt hatte.
Doch selbst als der Schlaf sie langsam wieder überkam, ließ ein Gedanken sie noch immer nicht los…
Ein Mörder ist auf freiem Fuß.
Es gibt einen Fall, der gelöst werden muss.
Als Samantha morgens das Rushville Polizeirevier betrat, hatte sie das ungute Gefühl, dass ihr einiger Ärger bevorstand. Gestern hatte sie ein paar Anrufe getätigt, die sie vielleicht nicht hätte machen sollen.
Vielleicht sollte ich endlich lernen, mich nur um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern , dachte sie.
Doch irgendwie fiel es ihr schwer, sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern.
Sie versuchte immer, die Dinge richtigzustellen – manchmal auch Dinge, die nicht richtiggestellt werden konnten, oder Dinge, von denen andere Leute nicht wollten, dass man sie richtigstellte.
Wie immer wenn sie zur Arbeit kam, konnte Sam keinen einzigen Cop weit und breit entdecken. Nur die Sekretärin des Chiefs, Mary Ruckle, saß bereits an ihrem Platz.
Die anderen Polizisten machten sich oft über Sam lustig…
„Die gute alte verlässliche Sam“, sagten sie. „Morgens immer die erste und abends die letzte.“
Jedoch klangen diese Bemerkungen meist eher nach Spott als nach Anerkennung. Sie versuchte sich stets vor Augen zu führen, dass es für sie ganz natürlich war, die „gute alte verlässliche Sam“ aufzuziehen. Sie war jünger als sie alle und arbeitete zudem noch nicht so lange auf dem Rushville Revier. Es half auch nicht, dass sie die einzige Frau im gesamten Revier war.
Einen Moment lang schien Mary Ruckle Sams Ankunft gar nicht bemerkt zu haben. Sie war damit beschäftigt, sich die Fingernägel zu lackieren – eine Beschäftigung, mit der sie den Großteil des Arbeitstages zubrachte. Sam verstand den Reiz einer Maniküre nicht. Sie hatte unlackierte Nägel, die sie regelmäßig schnitt, was einer der vielen Gründe sein mochte, weshalb die Leute sie für nun ja…
Unweiblich hielten .
Nicht dass Sam gefunden hätte, dass Mary Ruckle sonderlich attraktiv gewesen wäre. Ihr Gesicht war immer angespannt und hatte diesen Ausdruck von Gemeinheit, so als hätte ihr jemand eine zwickende Wäscheklammer auf die Nase gesetzt. Immerhin war Mary verheiratet und hatte drei Kinder, und nur wenige Leute in Rushville trauten Sam zu, vergleichbares zu erreichen.
Ob Sam selbst so ein Leben wollte, wusste sie nicht. Sie versuchte, nicht zu viel über die Zukunft nachzudenken. Vielleicht war das der Grund, aus dem sie sich immer so intensiv auf genau das konzentrierte, was ihr an jedem gegebenen Tag bevorstand. Sie konnte sich nicht wirklich irgendeine Zukunft für sich selbst vorstellen, zumindest sagte ihr keine derjenigen Optionen zu, die ihr hier in Rushville offenstanden.
Mary pustete auf ihre Nägel und als sie zu Sam aufschaute sagte sie…
„Chief Crane will dich sehen.”
Sam nickte seufzend.
Genau wie erwartet , dachte sie.
Sie betrat das Büro des Chiefs. Er spielte gerade Tetris auf seinem Computer.
„Einen Moment“, grummelte er, als er hörte, dass Sam den Raum betreten hatte.
Abgelenkt von Sams Ankunft verlor er das Spiel nur wenige Augenblicke später.
„Verdammt“, sagte er und starrte weiter auf den Bildschirm.
Sam machte sich bereit. Er war wahrscheinlich schon vorher sauer auf sie gewesen. Das Verlieren der Tetrispartie hatte seine Laune bestimmt nicht besser gemacht.
Der Chief drehte sich in seinem Drehstuhl zu ihr um und sagte…
„Kuehling, setzen.“
Sam setzte sich gehorsam auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
Er starrte sie einige Momente lang betont nachdenklich an während seine Fingerspitzen in Dreieckspose wichtigtuerisch in die Höhe ragten. Wie immer konnte er Sam damit nicht beeindrucken.
Crane war um die Dreißig, er sah auf eine langweilige Art und Weise gut aus – so wie Sam sich einen Versicherungskaufmann vorstellte. Dank des Machtvakuums das Chief Jason Swihart hinterlassen hatte als er vor zwei Jahren plötzlich wegzog, war Crane zum Polizeichief aufgestiegen.
Swihart war ein guter Chief gewesen, und alle hatten ihn gemocht, Sam miteingeschlossen. Swihart hatte ein tolles Jobangebot von einer Sicherheitsfirma im Silicon Valley bekommen, das er verständlicherweise sofort angenommen hatte.
Deshalb unterstanden nun Sam und all die anderen Cops dem neuen Chief Carter Crane. In Sams Augen verkörperte er die Mittelmäßigkeit der gesamten sehr mittelmäßigen Abteilung. Sam hätte es nie offen zugegeben, aber sie war überzeugt, dass sie ein hellerer Kopf war als Crane und alle anderen Cops ihres Reviers zusammengenommen.
Es wäre schön, mal eine Chance zu bekommen, das auch zu zeigen , dachte sie.
Endlich sagte Crane: „Ich habe einen interessanten Anruf gestern Nacht erhalten – von einem gewissen Spezialagenten Brent Meredith aus Quantico. Du wirst nicht glauben, was er mir erzählt hat. Andererseits, wer weiß, vielleicht weißt du selbst es ja schon viel besser als ich.“
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