1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Einer seiner Jungs packte einen Chinesen an beiden Schultern und warf ihn in einen Haufen Taschenbücher, die vor einem Geschäft aufgestapelt waren. Der Chinese fiel auf den Stapel, der sofort in sich zusammenfiel. Zwei weitere Chinesen sprangen seinen Jungen daraufhin an. Plötzlich fing Kyle an zu rennen. Er ließ sein Schild fallen und schob sich durch die Menge.
Er warf einen Chinesen zu Boden und watete durch eine Gruppe von ihnen, während er wild um sich schlug. Seine Fäuste krachten auf Knochen, die wie Zweige unter dem Aufprall zerbrachen.
Und das, wusste er, war erst der Anfang.
21:15 Uhr
Ocean City, Maryland
„Wie sehe ich denn aus…“, sagte Luke laut zu sich selbst.
Er stand in einem Aufzug, der mit Teppich ausgekleidet und von Glaswänden umgeben war. Eine lange Doppelreihe an Knöpfen befand sich auf der Metallverkleidung an der Wand. Er blickte sein Spiegelbild in dem gewölbten Sicherheitsspiegel in der oberen Ecke an. Es war verzerrt und merkwürdig, wie in einem Spiegelkabinett, ganz anders als die Reflektion auf der Glaswand. Der normale Spiegel zeigte einen großen Mann Anfang 50, sehr durchtrainiert, mit Krähenfüßen, die sich langsam um seine Augen bildeten und Spuren von Grau, die sich durch seine blonden Haare zogen. Seine Augen sahen uralt aus.
Während er sich betrachtete, konnte er plötzlich eine Vision von sich selbst als alter Mann sehen, einsam und verängstigt. Er war ganz allein auf dieser Welt – einsamer, als er jemals zuvor gewesen war. Er hatte zwei Jahre gebraucht, um das zu erkennen. Seine Frau war tot. Seine Eltern waren schon seit langer Zeit nicht mehr da. Sein Sohn wollte nichts mehr von ihm wissen. Es gab niemanden in seinem Leben.
Vor kurzem, im Auto, kurz bevor er in den Aufzug getreten war, hatte er Gunners alte Telefonnummer herausgesucht. Er war sich sicher, dass er immer noch die gleiche Nummer hatte. Der Junge hätte sie selbst behalten, nachdem er zu seinen Großeltern gezogen und ein neues Handy bekommen hätte. Luke war sich sicher – Gunner hätte sie behalten, weil er wollte, dass sein Vater ihn kontaktieren konnte.
Luke hatte eine kurze Nachricht an die alte Nummer geschickt.
Gunner, ich hab‘ dich lieb.
Dann hatte er gewartet. Und gewartet. Nichts. Die Nachricht war in den Äther geschickt worden und er hatte keine Antwort erhalten. Luke wusste nicht einmal, ob es tatsächlich die richtige Nummer gewesen war.
Wie konnte es nur so weit kommen?
Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Aufzugtüren öffneten sich und er stand im Foyer des Apartments. Es gab keinen Flur. Keine anderen Türen außer der Doppeltür, die sich vor ihm befand, waren zu sehen.
Die Tür öffnete sich und Mark Swann stand vor ihm.
Luke sah ihn an. Groß und dünn, langes, sandfarbenes Haar und eine runde John Lennon Brille. Sein Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er war in den letzten zwei Jahren ganz schön gealtert. Er sah schwerer aus als vorher. Sein Bauch, sein Gesicht und sein Hals sahen dicker aus. Sein T-Shirt trug den Schriftzug SEX PISTOLS in Buchstaben, die aussahen, als hätte jemand einen Erpresserbrief mit ihnen geschrieben. Er trug blaue Jeans und gelb-schwarz karierte Sneakers.
Swann lächelte, aber Luke konnte leicht sehen, dass es ein erzwungenes Lächeln war. Swann war nicht besonders froh, ihn zu sehen. Er sah aus, als hätte er etwas Verdorbenes gegessen.
„Luke Stone“, sagte er. „Komm rein.“
Luke erinnerte sich an die Wohnung. Sie war groß und hypermodern. Sie war zweistöckig und offen, die Decke hing sechs Meter über ihnen. Eine Wendeltreppe führte in den zweiten Stock, wo sich ein Wohnzimmer mit einer großen weißen Couch befand. Beim letzten Mal, als er hier gewesen war, hing ein abstraktes Gemälde hinter dieser Couch – verrückte, wütende rote und schwarze Farbflecken, die auf einer 1,50 Meter großen Leinwand verteilt waren – Luke konnte sich nicht ganz erinnern, wie genau es ausgesehen hatte. Wie dem auch sei, es war jetzt verschwunden.
Die beiden Männer gaben sich die Hand und umarmten sich ein wenig unbeholfen.
„Albert Helu?“, sagte Luke und verwendete Swanns Decknamen, auf den er das Apartment ausgestellt hatte.
Swann zuckte mit den Achseln. „Wenn du magst. Du kannst mich Al nennen. Jeder hier nennt mich so. Möchtest du ein Bier?“
„Gerne. Danke.“
Swann verschwand durch die Tür in die Küche.
Rechts von Luke war Swanns Kommandozentrale. Dort hatte sich nur wenig verändert. Eine Glaspartition trennte sie vom Rest der Wohnung ab. Ein großer schwarzer Ledersessel stand an einem Schreibtisch, unter dem ein Haufen Festplatten zu sehen war. Drei Flachbildschirme standen auf ihm und Kabel wanden sich auf dem Boden wie Schlangen.
An der Wand am anderen Ende, gegenüber vom Sofa, hing ein großer Fernseher, der vielleicht halb so groß wie eine Kinoleinwand war. Er war stummgeschaltet. Auf dem Bildschirm waren etwa ein Dutzend Polizeiwagen zu sehen, die in einer Straße standen und dessen Sirenen wild am blinken waren. 50 Polizisten standen in einer Reihe. Gelbes Polizeiband war an verschiedensten Orten zu sehen. Eine riesige Menschenmenge stand hinter dem Band.
LIVE war als Schriftzug am unteren Rand zu sehen. CHINATOWN, NEW YORK CITY
Swann kam mit zwei Flaschen Bier zurück. Auf einmal wusste Luke instinktiv, warum Swann zugenommen hatte. Er verbrachte viel Zeit damit, Bier zu trinken.
Swann zeigte auf den Fernseher. „Hast du davon gehört?“, fragte er.
Luke schüttelte den Kopf. „Nein. Was ist passiert?“
„Vor vielleicht 45 Minuten haben ein paar Neonazis sowas wie einen Marsch quer durch Chinatown in New York City veranstaltet. Gathering Storm, schon mal von ihnen gehört?“
„Swann, ich habe die letzten zwei Jahre fast ausschließlich in Zelten verbracht.“
„Dann wohl nicht. Naja, sie sind jedenfalls offiziell eine gemeinnützige Einrichtung, die sich dem Erhalt und der Verbreitung kultureller… wie soll ich es sagen? Weiß heit gewidmet haben, schätze ich. Amerikanischer Europa-ismus? Du weißt schon. Sie wollen Amerika sicherer für die Weißen machen. Jefferson Monroe ist ihr Hauptunterstützer – sie sind quasi seine moderne Version der Braunhemden. Es gibt wahrscheinlich ein halbes Dutzend Gruppen wie sie, aber ich glaube sie sind die größten.“
„Was ist passiert?“
Swann zuckte mit den Achseln. „Na was schon? Sie haben angefangen, Leute auf der Straße zusammenzuschlagen. Du solltest sie mal sehen. Sie sind ein einziger Schlägertrupp. Große Typen. Sie haben die Leute nur so durch die Gegend geworfen. Ein paar Einwohner haben sich das nicht gefallen lassen. Sie haben auf die Nazis gefeuert. Ein paar von ihnen wurden erschossen, fünf Tote heißt es aktuell. Die Schützen sind noch nicht gefasst. Die Situation entwickelt sich noch, sagen sie.“
„Die Opfer waren alles Nazis?“, fragte Luke.
„Sieht so aus.“
Luke zuckte mit den Achseln. „Naja…“
„Ja. Kein großer Verlust.“
Luke blickte vom Fernseher weg. Er hatte Schwierigkeiten, zu fassen, was gerade vor sich ging. Susan Hopkins glaubte, dass die Wahl gestohlen worden war. Ihr Gegner, der neue Präsident, unterstützte Neonazigruppierungen, die gerade einen Mini-Rassenkrieg in New York City ausgelöst hatten. War es so, wie es in Amerika jetzt aussah? Wann hatte sich alles so verändert? Scheinbar war Luke tatsächlich eine lange Zeit weggewesen.
„Was hast du so in der Zwischenzeit getrieben, Swann?“
Swann saß auf der großen weißen Couch. Er zeigte auf einen Stuhl, der gegenüber von ihm stand. Luke setzte sich. Das hatte gleichzeitig den glorreichen Vorteil, dass er nicht mehr auf den Fernseher blicken musste. Von hier aus konnte er die verdunkelten Glastüren sehen, die auf Swanns Balkon führten. Vom Whirlpool aus strahlte ein blassblaues Neonlicht hinein. Ansonsten war es draußen fast stockdunkel. Vor langer Zeit einmal hatte Luke auf diesem Balkon geschlafen. Er wusste, dass man tagsüber eine herrliche Aussicht auf den Atlantik hatte.
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