»Zu welchem Lager gehören Sie — zu den Katastrophisten oder den Uniformisten?«, wollte Arbatov wissen.
»Zu keinem. Keine Hypothese für sich wird allen Fakten gerecht. Ich denke, dass alles bisher Genannte daran beteiligt war, nämlich dass das Aussterben durch eine Katastrophe oder eine ganze Folge von Katastrophen in Gang gesetzt wurde. Tsunamis. Vulkanausbrüche, wodurch tödliche Wolken und Gase erzeugt wurden, die für eine grundlegende Veränderung der Vegetation sorgten.«
»Diese Hypothese hat allerdings auch ein großes Loch«, stellte Arbatov fest. »Alle Indizien weisen darauf hin, dass das Aussterben sich über Hunderte oder gar Tausende von Jahren erstreckte.«
»Das wäre kein Problem. Meine Hypothese berücksichtigt die Entdeckung von zahlreichen Mammuts, die man in Massengräbern gefunden hat, und sie erklärt gleichzeitig, weshalb einige Exemplare noch lange Zeit überlebt haben. Es gibt Beweise dafür, dass viele Tiere gewaltsam getötet wurden. Aber wir wissen auch, dass einige Mammutarten noch existierten, als die Ägypter ihre Pyramiden bauten. Die Katastrophe hat die Mammutherden derart geschwächt, dass sie durch Krankheiten und durch Jäger endgültig ausgelöscht werden konnten. Das Aussterben einer bestimmten Art setzte einen Dominoeffekt in Gang. Die Raubtiere, die Mammuts jagten, und andere Tiere verloren ihre Nahrungsquelle.«
»Ich denke, dass Sie auf der richtigen Spur sind, aber Sie meinen, dass diese weltweite Katastrophe plötzlich stattfand. Eben haben die Mammuts noch gemütlich Gras gefressen, und plötzlich waren sie zum Aussterben verurteilt. Ist das nicht ein wenig weit hergeholt?«
»Überhaupt nicht. Aber ich wäre die Erste, die zugibt, dass die Hypothese vom Polsprung ziemlich umstritten ist.«
»Polsprung?«
»Ich meine damit eine Neuausrichtung der Erdpole.«
»Wir sind keine Geologen«, sagte Arbatov. »Erklären Sie bitte, was Sie damit meinen.«
»Gerne. Es gibt zwei Arten der Polverschiebung. Eine ›magnetische Polverschiebung‹ hat eine Umkehr der magnetischen Pole zur Folge, wodurch allerlei Unannehmlichkeiten ausgelöst werden, jedoch nichts geschieht, das wir nicht überleben könnten. Eine ›geologische Polverschiebung‹ wäre eine tatsächliche Bewegung der Erdkruste über ihrem flüssigen Kern. Eine solche Erscheinung könnte eine Katastrophe auslösen wie die, von der ich annehme, dass sie die Mammuts als Art ausgelöscht hat.«
Arbatov war nicht überzeugt. »Sie legen Ihrer Hypothese vom Aussterben die theoretische Verschiebung der Erdpole zugrunde? Sie werden zugeben müssen, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass es zu einer derart großräumigen Störung kommen kann.«
»Im Gegenteil. Es ist geschehen, und es könnte jederzeit wieder geschehen.«
Arbatov ergriff mit einer übertriebenen Geste Karlas Glas. »Unser Gast hat wohl ein wenig zu sehr dem Wodka zugesprochen.«
»Sie können gerne meinen Aufsatz lesen, Dr. Arbatov, in dem ich meine Hypothese ausführlich begründe. Ich glaube, er wird Ihnen gefallen. Vor allem die Gleichungen, die zeigen, auf welche Art und Weise eine Störung des Magnetfelds der Erde einen Polsprung herbeiführen kann.«
Am Tisch brach eine Diskussion aus zwischen denen, die ihrer Hypothese zustimmten, und denen, die ihr widersprachen. Trotz ihrer zivilisierten Umgangsformen war offensichtlich, dass es in der Gruppe Spannungen gab. Das überraschte sie nicht. Wissenschaftler unterschieden sich nicht von sogenannten normalen Menschen, außer dass sie vielleicht um einiges eitler und kleinlicher waren. Marias ausgeprägt freundliche Persönlichkeit beendete den verbalen Schlagabtausch.
»Ich entschuldige mich für dieses ungehörige Verhalten gegenüber einem Gast«, sagte sie und schien ihren Mann mit Blicken erdolchen zu wollen. »Wie sehen Ihre Pläne für morgen aus?«
Nachdem Arbatov einen Dämpfer erhalten hatte, endete die Diskussion so schnell, wie sie ausgebrochen war.
»Vielleicht kann mir jemand von Ihnen zeigen, wo Sie Babar gefunden haben.«
Das sei kein Problem, wurde ihr gesagt. Alle halfen Maria beim Aufräumen. Wenig später schlüpfte Karla in ihren Schlafsack. In dem alten Gebäude war es bemerkenswert gemütlich und warm, und bis auf das Geraschel, das von allerlei kleinem Getier verursacht wurde, fühlte sie sich recht wohl. In ihrer Erregung über den Fund des Mammutbabys hatte sie Schwierigkeiten einzuschlafen.
Sie erinnerte sich an ein Gute-Nacht-Gedicht, das ihr Großvater immer aufgesagt hatte, nachdem sie nach dem Tod ihrer Eltern zu ihm gezogen war.
Sie kam kaum fünf Zeilen weit, als der Schlaf sie am Ende doch übermannte.
Die Trouts landeten am Spätnachmittag in Albuquerque und fuhren anschließend nach Santa Fé, wo sie übernachteten. Früh am nächsten Morgen stiegen sie in ihren Mietwagen und machten sich auf den Weg nach Los Alamos, das auf einer natürlichen Zitadelle oberhalb der drei Mesas lag, die sich an das Panaretos Plateau anschlossen.
Während der fünfundsechzig Kilometer langen Fahrt bemerkte Trout bei seiner Frau eine deutliche Veränderung. Hatte sie sich anfangs noch begeistert über die Landschaft gezeigt, durch die sie fuhren, und den Wunsch geäußert, sich unterwegs ein indianisches Pueblo anzusehen, war sie nun ungewöhnlich schweigsam.
»Einen Penny für deine Gedanken«, sagte er. »Natürlich unter Berücksichtigung der Inflationsrate.«
»Wenn ich diese friedliche Landschaft sehe, muss ich an die Arbeit denken, die hier im Rahmen des Manhattan Projects geleistet wurde, und an die schrecklichen Kräfte, die dadurch entfesselt wurden.«
»Jemand hatte es tun müssen. Sei bloß froh, dass wir die Ersten waren.«
»Das weiß ich, aber es bedrückt mich immer noch, wenn ich mir vorstelle, dass wir noch immer nicht gelernt haben, wie wir den Geist unter Kontrolle halten, den wir aus der Flasche befreit haben.«
»Kopf hoch. Atomkraft könnte verglichen mit Strudeln und Riesenwellen am Ende ein alter Hut sein.«
Gamay schickte ihm einen säuerlichen Blick. »Vielen Dank für deinen liebevollen Aufmunterungsversuch.«
Seit den Tagen, als Robert Oppenheimer und sein Team von Genies dahintergekommen waren, wie man die Kraft des Atoms in einen stählernen, mit einem Steuerschwanz versehenen Zylinder einsperrt, hatte Los Alamos sich erheblich verändert. Es war eine betriebsame, im Südwesten der USA gelegene Stadt mit Einkaufszentren, Schulen, Parks, Sinfonieorchester und Theater, hatte es aber nie geschafft, sich von seiner düsteren Vergangenheit zu befreien. Vielleicht hatte die Stadt es auch gar nicht gewollt. Obgleich das Los Alamos National Laboratory sich heutzutage mit zahlreichen friedlichen wissenschaftlichen Projekten befasst, ist der Geist des Manhattan Project dort immer noch greifbar.
Laborgebäude, in denen über den Umgang mit Kernwaffen geforscht wird, sind noch immer für die Öffentlichkeit unzugänglich, was man als Hinweis darauf verstehen kann, dass die Stadt noch immer eine enge Verbindung mit dem Atomkrieg pflegt. Touristen, die dem Museum des Labors einen Besuch abstatten, können Nachbildungen des »Fat Man« und des »Little Boy«, der ersten Atombomben, berühren, die verschiedenen Typen von Atomsprengköpfen betrachten und sich mit den lebensgroßen Statuen von Robert Oppenheimer und General Groves, den Zwillingssternen der streng geheimen Allianz von Militär und Wissenschaft, die die Bomben schuf, die auf Hiroshima und Nagasaki geworfen wurden, fotografieren lassen.
Die Trouts machten in der Forschungsbibliothek des Labors Halt und unterhielten sich mit einer wissenschaftlichen Assistentin, mit der sie sich zuvor telefonisch verabredet hatten. Sie hatte einen Schnellhefter mit Informationen über Lazio Kovacs vorbereitet, doch das meiste war rein biographischer Natur und enthielt nicht mehr, als sie bereits über den Wissenschaftler wussten. Kovacs, so schien es, war lediglich eine Fußnote. Ebenso wie Tesla, über den erheblich mehr bekannt war, habe Kovacs sich zu einer Kultfigur entwickelt, erklärte die Assistentin, und seine Theorien gehörten eher in den Bereich von Science-Fiction, als dass man sie wissenschaftlich ernst nehmen könne.
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