Das Mädchen, das die Schrotflinte abgefeuert hatte, sah noch jünger aus als die Blonde, die unter dem Pferdeschwanz-Typen auf der Matratze lag. Ihr Gesicht wirkte so unschuldig wie das eines Kindes, mit Grübchen und Sommersprossen auf den Wangen. Als sie nach vorn auf die Knie sackte, war bereits alles Leben aus ihren traurigen, glasigen Augen gewichen. Trotzdem blieb ihr Blick starr auf Fallon gerichtet, bis sie schließlich vornüberkippte und zu Boden fiel.
Der Mann auf der Matratze nutzte den Zwischenfall, um erneut nach seiner Uzi zu greifen, doch da er seine linke Hand nicht benutzen konnte, musste er den gesamten Oberkörper herumdrehen und versuchen, sie mit der rechten zu packen. Seine Finger schlossen sich um die Waffe, aber aus der Position, in der er sich nun befand, konnte er nicht feuern. Um Fallon in der Schusslinie zu haben, musste er sich erst wieder in die andere Richtung drehen.
Er war nicht schnell genug. Kaum hatte er sich ein Stück bewegt, zielte Fallon bereits wieder auf ihn.
»Fallen lassen«, brüllte Fallon, doch der Mann kümmerte sich gar nicht darum. Mit einem Aufschrei des Zorns wirbelte er herum. Er wollte Blut sehen.
Erneut drückte Fallon ab, auch diesmal waren es zwei Schüsse. Beide trafen den Mann in die rechte Schulter, wo sie ihm Schlüsselbein und Schulterblatt zertrümmerten, bevor er mit der Uzi zielen konnte. Sein Arm erschlaffte augenblicklich.
Die Blonde unter ihm war inzwischen über und über mit seinem Blut bedeckt. Sie stieß einen spitzen Angstschrei aus, der in ihrer Kehle festgesessen hatte, seit das Mädchen aus dem Bad tot zusammengebrochen war. Dann begann sie wie von Sinnen zu kreischen.
Pferdeschwanz ließ die Waffe fallen und brach auf dem blonden Mädchen zusammen. Dieses strampelte und zappelte unter ihm, um sich zu befreien.
Ohne den Mann oder die Blondine auf der Matratze aus den Augen zu lassen, stieg Fallon über die Leiche des Mädchens hinweg und ging zielstrebig zum Bad. Es war leer.
»Mann am Boden!«, rief er in sein Helmmikrofon.
Zwei Sekunden später wurde die Tür zum Schlafzimmer aufgerissen. Team Alpha kam hereingestürmt, unmittelbar gefolgt von Team Beta. Jeder zielte mit seiner Waffe in eine andere Zimmerecke.
Fallon gab Entwarnung. »Zimmer gesichert.«
»Haus komplett sicher«, meldete Toro daraufhin von der Tür her.
Der gesamte Zugriff hatte dreiunddreißig Sekunden gedauert. Leider war er in ein Blutbad ausgeartet.
Während Robinson und Toro das Pärchen auf der Matratze ins Visier nahmen, kümmerte sich Fallon um den am Boden liegenden Grimshaw.
»Grimshaw!«, rief er, als er neben ihm auf die Knie ging.
Keine Reaktion. Grimshaws Hals war voller Blut.
»Scheiße«, fauchte Fallon und nahm Grimshaws Kopf in die Hände. »Warum bist du nicht ins Bad gegangen? Ich hatte hier doch alles im Griff, Junge.«
Fallon fühlte Grimshaws Puls.
Nichts.
Eine Schrotflinte vom Kaliber 12 verschießt Garben aus Bleikugeln. Sobald die Ladung den Lauf verlassen hat, beginnt sie zu streuen. Das bedeutet, dass sich die Kraft der Treibladung auf die einzelnen Schrotkugeln verteilt und die Geschossenergie stark abnimmt. Für Distanzschüsse sind Schrotflinten daher nicht geeignet, aber die große Zahl der Projektile macht sie zur idealen Waffe im Häuser-oder Straßenkampf. Durch Zufall hatte das Mädchen hoch gezielt, so dass der Großteil der Schrotkugeln Grimshaws schusssichere Weste verfehlt und ihn am Hals getroffen hatte. Dort hatten sie Haut, Muskeln, Arterien und Venen zerfetzt. Blut lief aus seinen Wunden wie aus einem aufgedrehten Wasserhahn.
»Wir brauchen einen Arzt hier drin!«, schrie Fallon in sein Mikrofon, während er bereits mit der Herzmassage begann. Er wollte nicht wahrhaben, was er bereits wusste. Sie konnten nichts mehr für ihn tun.
»Verdammte Scheiße!«, brüllte Fallon, ohne Grimshaws leblosen Körper loszulassen. Grimshaws Augen waren noch geöffnet.
Team Beta war zwischenzeitlich zur Matratze gegangen, wo das blonde Mädchen immer noch nicht aufgehört hatte zu schreien. Robinson warf einen Blick auf den Mann, der blutüberströmt über ihr lag.
Sie hatten ihre Zielperson.
»Lassen Sie die Waffe fallen, Detective«, befahl der Totenkünstler, während er Hunter tief in die Augen sah und gleichzeitig Scott Bradley das Elektromesser an die Kehle presste.
Hunter rührte sich nicht. Er hielt die Waffe fest in der Hand.
»Sind Sie sicher, dass Sie dieses Spiel spielen wollen, Robert? Ich bin nämlich mehr als bereit dazu.« Erneut wurde das elektrische Messer eingeschaltet, und sein Surren vibrierte durch die Halle wie das Geräusch von tausend Zahnarztbohrern.
Scott litt solche Todesangst, dass ihm nur ein schwaches Wimmern über die Lippen kam. Er verlor die Kontrolle über seine Blase.
Noch immer bewegte Hunter sich nicht.
»Wie Sie wollen.« In einer blitzschnellen Bewegung packte der Totenkünstler Scotts rechte Hand und machte sich mit dem Messer über den Zeigefinger her. Mit erschreckender Leichtigkeit durchschnitten die Klingen Fleisch und Knochen. Der Finger purzelte zu Boden wie eine tote Made. Blut spritzte auf.
Scott stieß einen rauen Schrei aus und versuchte noch die Hand wegzuziehen, aber es war zu spät. Wo kurz zuvor noch ein Finger gewesen war, befand sich jetzt nur noch eine blutende Wunde. Scott sah aus, als wäre er kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren.
»Schon gut!«, rief Hunter und hob in einer Geste der Kapitulation die linke Hand. »Also gut, Sie haben gewonnen.« Er sicherte seine Pistole und legte sie auf den Boden.
Der Totenkünstler schaltete das Messer ab. »Schieben Sie sie mit dem Fuß von sich weg. Und zwar weit weg.«
Hunter tat wie ihm befohlen und versetzte seiner Waffe einen Tritt. Sie schlitterte über den Betonboden und prallte schließlich neben dem Totenkünstler gegen die Wand.
»Die Ersatzwaffe auch.«
»Ich habe keine.«
»Ach, wirklich?« Erneut wurde das Messer eingeschaltet.
»Neeeeiiin!«, schrie Scott.
»Ich habe wirklich keine!«, brüllte Hunter über den Lärm hinweg. »Ich trage keine Ersatzwaffe!«
»Also gut. Dann ziehen Sie sich aus … langsam. Legen Sie die Kleider ab und werfen Sie sie zur Seite. Die Unterwäsche können Sie anbehalten.«
Hunter gehorchte widerspruchslos.
»Und jetzt legen Sie sich auf den Boden. Gesicht nach unten, Arme und Beine auseinander.«
Hunter wusste, dass ihm keine Wahl blieb. Für ihn und Scott lief langsam, aber sicher die Zeit ab.
»Wissen Sie was?«, sagte der Totenkünstler, während er einen Mullverband um Scotts Hand wickelte. »Ich habe nie daran gezweifelt, dass Sie dahinterkommen. Ich wusste von Anfang an, dass es Ihnen irgendwann gelingen wird, sich alles zusammenzureimen. Dass Sie die wahre Bedeutung hinter den Skulpturen erkennen. Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass es so schnell geht. Nicht bevor ich die Sache abgeschlossen habe. Nicht ohne das letzte noch fehlende Stück. Wie haben Sie das gemacht? Wie sind Sie darauf gekommen?«
Hunter stützte das Kinn auf den Betonboden und sah ihr geradewegs in die Augen.
Olivia, Derek Nicholsons älteste Tochter, trat hinter dem Metallstuhl hervor. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, und darüber trug sie einen Overall aus wasserfestem Material, den sie bis zum Kinn geschlossen hatte. Als sie sich die Kapuze des Overalls vom Kopf streifte, sah Hunter, dass sie eine schwarze Badekappe aus Silikon trug. Ihre Schuhe schienen ihr mehrere Nummern zu groß zu sein. Hunter dachte an das, was Brindle über die Schuhabdrücke in Dupeks Bootskajüte gesagt hatte – dass die Gewichtsverteilung bei jedem Schritt anders gewesen war, was entweder bedeutete, dass der Täter humpelte oder absichtlich Schuhe in der falschen Größe getragen hatte.
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