Über Kelli Whyte fand Hunter heraus, dass sie fünfundvierzig Jahre alt war, sich unlängst hatte scheiden lassen und in Hancock Park lebte. Sie leitete eine Aktienmakler-Firma, die ihren Sitz im Finanzbezirk von Downtown L. A. hatte. Seit ihrer Scheidung vor einem halben Jahr hatte sie Schwierigkeiten mit der Bewältigung ihres Alltags.
Denise Forde war eine siebenundzwanzigjährige Systemanalytikerin, die in South Pasadena lebte und bei einem Softwareentwickler in Silver Lake angestellt war. Alles, was er bislang über sie in Erfahrung gebracht hatte, war, dass sie extrem introvertiert war, unter geringem Selbstwertgefühl litt und nur wenige Freunde hatte.
Weder Kelli noch Denise kamen in Hunters Augen als Verdächtige in Betracht. David Jones hingegen gab ihnen Rätsel auf. Die Adresse, die Sheryl in ihren Akten gefunden hatte, war falsch. Sie gehörte zu einem kleinen Sandwichladen in West Hollywood. Über die Handynummer, die er als Kontakt angegeben hatte, war niemand zu erreichen. Dazu kam, dass der Name David Jones zu häufig war, als dass man den Mann ohne weiteres hätte aufspüren können. Eine erste Recherche ergab, dass allein in Downtown Los Angeles fünfundvierzig Männer dieses Namens gemeldet waren. Hunter hatte ohnehin keinen Zweifel, dass es sich um ein Alias handelte. Er war sich absolut sicher, dass der Täter bereits vor der Mordnacht in Littlewoods Büro gewesen sein musste. Er war viel zu gründlich, als dass er die Räumlichkeiten nicht im Voraus hätte auskundschaften wollen. Er hatte gewusst, dass Littlewoods Bürokomplex über Nacht leer stand. Er hatte gewusst, dass es im Gebäude keine nennenswerten Sicherheitsvorkehrungen gab und er weder Wachpersonal noch Kameras fürchten musste. Er hatte auch gewusst, dass es ein Kinderspiel werden würde, sich Zutritt zum Gebäude zu verschaffen. Und vor allem hatte er gewusst, dass er, um seine Skulptur zu vervollständigen, nicht selbst eine Schachtel mitbringen musste. Er hatte gewusst, dass Littlewood eine entsprechende Buchattrappe besaß. Außerdem war der Täter dreist und arrogant: Er hätte in jedem Fall vor der Tat Littlewood in seiner Praxis gegenübersitzen wollen, und wenn auch nur aus reinem Vergnügen. Wie ließ sich das besser bewerkstelligen, als wenn man sich als Patient tarnte? Die Anonymität zu wahren wäre nicht weiter schwierig gewesen. Vielleicht hatte Captain Blake tatsächlich recht, und der Täter spielte mit ihnen wie mit Marionetten.
Es war schon spät, als das Telefon auf Hunters Schreibtisch klingelte. Widerstrebend riss er sich von der Pinnwand mit den Fotos los und griff nach dem Hörer.
»Robert, ich habe noch ein paar Ergebnisse für Sie«, kam Dr. Hoves müde Stimme aus der Leitung.
Hunter sah auf die Uhr. Er war erstaunt über die fortgeschrittene Uhrzeit. Schon wieder hatte er alles um sich herum vergessen. »Sie arbeiten noch, Doc?« Er bedeutete Garcia, ebenfalls seinen Hörer abzunehmen.
»Sie müssen gerade reden. Ich wette, Carlos ist auch noch im Büro.«
»Ja, ich bin hier«, sagte Carlos und verzog wie ertappt das Gesicht.
»Sie werden den Kerl nicht fangen, wenn vorher bei Ihnen im Gehirn sämtliche Sicherungen durchschmoren, Robert. Das müsste Ihnen doch klar sein.«
»Wir wollten sowieso gerade Schluss machen.«
»Wer’s glaubt.«
Hunter grinste. »Also, was können Sie uns berichten?«
Hunter und Garcia hörten, wie am anderen Ende Papier raschelte. »Wie erwartet wurden dem Opfer sämtliche Schnitte und Hämatome am Torso ante mortem zugefügt. Ich würde den Todeszeitpunkt auf irgendwann zwischen drei und fünf Uhr morgens festlegen.«
»Dann hätte der Täter danach noch mindestens drei Stunden Zeit gehabt, seine Skulptur fertigzustellen«, sagte Hunter.
»Richtig. Wie die zwei ersten Opfer ist auch Littlewood im Endeffekt an multiplem Organversagen aufgrund von massivem Blutverlust gestorben. In erster Linie waren es Herz und Nieren. Außerdem hatte er Verbrennungen an der rechten Brustwarze, am Oberkörper, an den Armen, im Genitalbereich und am Rücken. Ich habe übrigens rausgefunden, dass sie von einem Glätteisen stammen.«
»Was?«
»Manchmal werden sie auch als Haarglätter bezeichnet.«
»Ich weiß, was ein Glätteisen ist, Doc. Aber sind Sie sicher?«
»So gut wie. Die Brandwunden sind sehr ebenmäßig, quasi symmetrisch, und haben gerade Ränder. Die Verbrennungen an der Brustwarze haben mich auf die Idee gebracht. Die Spitze der Warze ist nicht verbrannt. Die Verbrennungen befinden sich nur an den Seiten, als hätte der Täter die Warze vom Körper weggezogen und dann mit einer heißen Zange umfasst.«
Garcia knirschte mit den Zähnen und legte sich den linken Arm quer über die Brust.
»Die Verbrennungen stammen von etwa drei Zentimeter breiten Platten. Das ist eine Standardgröße, sie kommt bei vielen Geräten vor. Als der Täter mit der Folter fertig war, ist er zu den Amputationen übergegangen. Das linke Bein wurde als Erstes abgenommen. Das Opfer war zu dem Zeitpunkt gerade noch am Leben. Das beantwortet auch die Frage, weshalb so viel Blut am Tatort gefunden wurde. Ich hatte ja schon darauf hingewiesen, dass der Täter diesmal nicht daran interessiert war, die Blutung zu stoppen. Es wurden keine Arterien oder Venen abgeklemmt oder abgebunden. Der Täter hat sein Opfer einfach verbluten lassen, und aus dem Grund glaube ich auch nicht, dass uns die Tox-Untersuchung irgendwelche nennenswerten Ergebnisse liefern wird. Zumindest wird sie keine Mittel nachweisen, die die Herzrate gesenkt haben.«
»Aber vielleicht andere Drogen?«, fragte Hunter, dem Dr. Hoves zögerlicher Tonfall aufgefallen war.
»Vielleicht. Ich habe ein winziges Hämatom an der rechten Halsseite des Toten gefunden. Eine Einstichstelle. Sieht so aus, als hätte der Täter ihm etwas injiziert, wir wissen nur noch nicht, was.«
Hunter kritzelte ein paar Notizen auf ein Blatt Papier.
»Und wir hatten recht damit, dass der Täter diesmal nicht auf die Qualität der Amputationen geachtet hat«, fuhr Dr. Hove fort. »Das Instrument, das er verwendet hat, war dasselbe wie immer …«
»Ein elektrisches Tranchiermesser«, schob Garcia dazwischen.
»M-hm. Aber diesmal hat er es eher wie ein Metzger benutzt, er hat gehackt und gesägt, als würde er einen Braten schneiden. Außerdem habe ich keine Markierungen auf der Haut gefunden wie bei den anderen Opfern. Dem Täter war die korrekte Einschnittstelle egal.«
»Er kommt immer mehr in Schwung«, meinte Garcia.
»Darüber hinaus haben wir Fesselmarken an Handgelenken, Unterarmen und Fußknöcheln gefunden. Im Gegensatz zu den anderen beiden Opfern wurde dieses Opfer also fixiert. Noch eine Abweichung von der ursprünglichen Vorgehensweise. Die Fesseln konnten am Tatort allerdings nicht sichergestellt werden.« Mehr Papierrascheln. »Der für die Skulptur verwendete Draht ist der gleiche wie bisher, dasselbe gilt für das Haftmittel – Sekundenkleber. Wie erwartet hat die Spurensicherung in der Praxis und im Wartebereich Fingerabdrücke von mehreren Personen gefunden.«
»Die Reinigungskraft kam zweimal pro Woche«, sagte Hunter. »Zum letzten Mal war sie vor zwei Tagen da, morgen früh wäre sie wieder dran gewesen. Wir werden die Fingerabdrücke auf jeden Fall überprüfen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie von den Patienten stammen.«
Dr. Hove seufzte. »Mehr kann ich Ihnen von der Autopsie nicht berichten.«
»Danke, Doc.«
»Irgendwelche Fortschritte bei den neuen Schattenbildern? Gibt es eine Verbindung zu den anderen zweien?«
»Wir sind am Ball, Doc«, gab Hunter zurück. Diesmal war es seine Stimme, die müde klang.
»Aus reiner Neugier – sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie was rausfinden?«
»Wird gemacht. Ach, übrigens, Littlewoods Sekretärin hat mir gesagt, dass er die Buchattrappe als Aufbewahrungsort für seine Autoschlüssel und sein Handy benutzt hat, wenn er in der Praxis war. Hat die Spurensicherung die zufällig gefunden?«
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