»Nur seine alte Privatadresse. Es gibt keine Bewährungsauflagen, Sands hat seine Strafe komplett abgesessen, er muss sich also weder bei einem Bewährungshelfer noch bei einem Richter oder bei sonst wem melden. Er unterliegt keinerlei Beschränkungen. Wenn er will, kann er sogar das Land verlassen.«
»Also gut«, sagte Captain Blake mit einem Blick zu dem Foto auf ihrem Schreibtisch. »Wir müssen ihn auf der Stelle ausfindig machen und uns ein wenig mit ihm unterhalten.« Sie machte Alice ein Handzeichen, damit diese ihr die Mappe mit dem Bericht aushändigte.
»Bis wir ihn gefunden haben«, sagte Bezirksstaatsanwalt Bradley, »sollten wir über die Sache Stillschweigen bewahren. Ich will nicht, dass die Presse oder sonst irgendjemand davon erfährt.« Er sah Hunter und Garcia an, als rechne er damit, dass sie mit den neuen Erkenntnissen an die Öffentlichkeit gingen, kaum dass sie Blakes Büro verlassen hatten. »Ganz egal wer. Ein Staatsanwalt und ein Polizist sind ermordet worden. Jeder Cop, jede Strafverfolgungsbehörde in Los Angeles ist heiß darauf, einen vermeintlichen Verdächtigen in die Finger zu kriegen. Wenn das hier nach außen dringt, haben wir eine Hexenjagd am Start, wie die Stadt sie noch nicht erlebt hat. Also, kein Wort zu niemandem. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Statt ihm eine Antwort zu geben, sahen Hunter und Garcia den Bezirksstaatsanwalt lediglich an.
»Habe ich mich klar ausgedrückt, Detectives?«
»Glasklar«, sagte Hunter.
Nach der Aufregung des Vormittags zog sich der Rest des Tages wie Kaugummi. Es gab keine weiteren Entwicklungen. Wie vermutet, war die Adresse, die Alice in der Akte über Ken Sands gefunden hatte, veraltet. Und da Sands erst sechs Monate zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden war, hatte er noch keine Papiere beantragt, mit deren Hilfe man ihn hätte aufspüren können – keinen Führerschein, keinen Reisepass, keinen Berechtigungsschein für die staatliche Fürsorge, nichts. Auf seinem Sozialversicherungsausweis war immer noch die alte Anschrift angegeben.
Hunter hatte ein Team damit beauftragt, Bankkonten, Gas-oder Stromrechnungen ausfindig zu machen – irgendetwas, was ihnen einen Hinweis auf Sands’ gegenwärtigen Aufenthaltsort liefern konnte. Darüber hinaus klapperten sie Sands’ alte Freunde ab, und zwar sowohl diejenigen, mit denen er vor seinem Gefängnisaufenthalt zu tun gehabt hatte, als auch diejenigen, die er in Haft kennengelernt hatte und die zwischenzeitlich entlassen worden waren. Sie wollten nichts unversucht lassen, auch wenn es, das wusste Hunter sehr wohl, so gut wie unmöglich sein würde, aus alten Freunden oder Knastbrüdern Informationen herauszubekommen. Dem Gesetz der Straße nach war Verrat – erst recht Verrat an die Cops – ein Verbrechen, das mit dem Tod bestraft wurde. Nicht einmal Sands’ Feinde würden sich ohne weiteres zum Reden bringen lassen.
Außerdem hatte Hunter in Lancaster die kompletten Besuchslisten von Sands und Ortega angefordert. Da jedoch die kalifornischen Gesetze zum Schutz der Persönlichkeitsrechte recht streng waren, würde es ein oder zwei Tage dauern, ehe sie einen Richter davon überzeugt hatten, den Antrag zu unterschreiben, und dann noch einen weiteren, bevor sie die relevanten Unterlagen in den Händen hielten.
Gina Valdez, die Freundin, die Ken Sands fast totgeprügelt hatte, war wie vom Erdboden verschluckt. Den Namen zu ändern war in Amerika kein sonderlich komplizierter Vorgang, und im Zeitalter des Internets wurde es zunehmend leichter, sich eine vollständig neue Identität zu erschaffen. Niemand wusste, ob Gina inzwischen unter anderem Namen lebte oder gar eine neue Identität angenommen hatte. Niemand wusste, ob sie sich noch in L. A., in Kalifornien oder in den USA aufhielt. Nur eins stand fest: Sie wollte offenbar nicht gefunden werden.
Als Detective des LAPD hatte Andrew Dupek hin und wieder mit einem Partner zusammengearbeitet, Detective Seb Stokes. Stokes war bei Ken Sands’ Verhaftung nicht dabei gewesen, doch Hunter rief ihn trotzdem an. Sie verabredeten sich für den nächsten Morgen.
Brian Doyle, Chef der IT-Abteilung des LAPD, hatte sich am späten Nachmittag bei Hunter gemeldet und ihm berichtet, was er auf dem Computer aus Dupeks Apartment gefunden hatte. Hunter und Garcia verbrachten eine Stunde damit, die E-Mails und den Browserverlauf durchzugehen. Es stellte sich rasch heraus, dass Dupek des Öfteren Escort-Agenturen in Anspruch genommen hatte, von denen viele auf Fetisch, Bondage und SM spezialisiert waren. Außerdem gab es eine lange Reihe von Porno-Websites, und obwohl viele von ihnen definitiv als Hardcore einzustufen waren, war keine von ihnen illegal.
Die E-Mails förderten nichts Verdächtiges zutage, keine Drohbotschaften oder Nachrichten, die man als solche hätte interpretieren können.
Auch bei der Identifikation des mysteriösen zweiten Besuchers an Derek Nicholsons Krankenbett erzielten sie keine Fortschritte. Immer wieder dachte Hunter über das nach, was Nicholsons Pflegerin Amy Dawson gesagt hatte: dass Nicholson sein Gewissen erleichtern und jemandem die Wahrheit habe sagen wollen.
Als Nächstes machten sie sich daran, im Internet nach Abbildungen zu suchen, die auch nur im Entferntesten dem Schattenbild der Skulptur von Dupeks Boot ähnlich sahen. Sie fanden nichts. Die Schattenfigur des gehörnten Kopfes passte zu jeder beliebigen Teufels-oder Dämonengestalt aus jeder Religion, jedem Glaubenssystem und jeder Kultur rund um den Globus, selbst auf den griechischen Gott Pan, Apollo oder sogar Zeus, deren frühe Darstellungen oft gehörnte Männer zeigten.
Teufel oder Gott , dachte Hunter. Such dir was aus .
Ohne Referenzpunkt war es, als würde man an einem Sandstrand nach einem blonden Haar suchen.
Der zweite Teil des Schattenbildes erwies sich als noch rätselhafter. Zwei stehende und zwei halb übereinander liegende Gestalten. Hunter und Garcia kamen einfach nicht weiter, und Hunter sah sich allmählich gezwungen, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Alice recht gehabt hatte: Vielleicht gab es in dem Bild tatsächlich keinen tieferen Sinn zu entdecken. Keine religiöse, keine mythologische, keine wie auch immer geartete zweite Bedeutungsebene. Vielleicht stellte es genau das dar, was sie als Interpretation vorgeschlagen hatte: einen diabolischen Mörder, der auf seine Opfer herabsah. Zwei waren schon beseitigt, zwei standen noch aus. Was im Klartext hieß, dass er wieder töten würde.
Die Abendessenszeit war schon vorbei, als Hunter zum zweiten Mal vor Amy Dawsons Haus in Lennox parkte. Auch diesmal bat sie ihn mit einem höflichen Lächeln ins Haus, führte ihn jedoch nicht ins Wohnzimmer, sondern in die Küche.
In der Luft lag der köstliche Duft von gekochten Tomaten, Basilikum, Zwiebeln und Gewürzen.
»Mein Mann schaut sich im Wohnzimmer das Spiel an«, sagte Amy zur Erklärung. »Er ist ein großer Dodgers-Fan, und wenn er so richtig mitfiebert, kann es ziemlich laut werden. Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn wir uns hier unterhalten, oder?«
»Kein bisschen«, versicherte Hunter. »Es dauert auch nicht lange.«
Amy trug ein leichtes geblümtes Kleid und Flipflops aus Gummi. Ihre Cornrows waren verschwunden, stattdessen hatte sie sich die Haare zu einem buschigen Pferdeschwanz gebunden. Sie bot Hunter einen der Stühle an, die um den Resopal-Klapptisch herumstanden.
»Wenn Sie ein bisschen früher gekommen wären, hätten Sie noch mit uns zu Abend essen können.«
Hunter lächelte. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, danke. Aber wahrscheinlich ist es besser so. Wenn man mir ein leckeres, hausgemachtes Nudelgericht vorsetzt, kann ich mein eigenes Körpergewicht verdrücken … vielleicht sogar mehr.«
Amy stutzte und sah Hunter argwöhnisch an. »Woher wissen Sie, dass ich heute Abend Nudeln gekocht habe?«
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