Dan betrat den Wanderweg. Eine kleine Weile konnte Billy noch sehen, wie er langsam und unter Schmerzen durch die leuchtenden Blätter der Zitterpappeln ging, den Blick auf den Boden gerichtet, um nicht zu stolpern. Dann war er verschwunden.
»Pass gut auf meinen Jungen auf«, sagte Billy. Er war sich nicht sicher, ob er mit Gott oder mit Abra sprach. Das war wohl auch egal; wahrscheinlich waren beide an diesem Nachmittag zu beschäftigt, sich um Leute wie ihn zu kümmern.
Er ging zu seinem Pick-up zurück und holte ein Mädchen von der Ladefläche. Sie hatte starre, kobaltblaue Augen und steife, blonde Locken. Sie wog nicht viel; wahrscheinlich war sie innen hohl. »Na, wie geht’s, Abra? Bist hoffentlich nicht allzu sehr herumgekullert.«
Das Mädchen trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck COLORADO ROCKIES und blaue Shorts. Die Füße waren nackt, was völlig in Ordnung war. Da es sich um eine Schaufensterpuppe aus einem todgeweihten Kindermodeladen in Martenville handelte, war sie nie auch nur einen einzigen Schritt gegangen. Aber sie hatte bewegliche Knie, weshalb Billy sie problemlos auf den Beifahrersitz setzen konnte. Er schnallte sie an und wollte schon die Tür schließen, als ihm noch etwas einfiel. Als er den Kopf nach vorn drückte, bewegte sich der Hals, wenn auch nur ein kleines Stück. Er trat einen Schritt zurück, um die Wirkung zu begutachten. Nicht schlecht. So schien die Puppe etwas in ihrem Schoß zu betrachten. Oder um Kraft in dem nahenden Kampf zu beten. Gar nicht schlecht.
Vorausgesetzt, diese Typen hatten keine Ferngläser.
Billy stieg ein und wartete, um Dan genügend Zeit zu lassen. Falls der nicht auf dem Weg zum Campingplatz doch noch umgekippt war.
Um Viertel vor fünf ließ Billy den Motor an und bog in die Straße ein, die er heraufgekommen war.
5
Dan ging mit gleichmäßigen Schritten durch den Wald, obwohl die Hitze in seinem Bauch ständig zunahm. Es fühlte sich an, als hätte sich da drinnen eine Ratte eingenistet, die in Flammen stand und trotzdem eifrig an ihm nagte. Ginge der Weg nach oben statt nach unten, hätte er es vermutlich nicht geschafft.
Um zehn vor fünf kam er zu einer Biegung und blieb stehen. Ein kleines Stück weiter ging der Wald in einen grünen, gepflegten Rasenhang über, an dessen unterem Ende zwei Tennisplätze angelegt waren. Dahinter sah Dan die Wohnmobilstellplätze und ein langes Blockhaus: die Overlook Lodge. Jenseits davon stieg das Gelände wieder an. Dort, wo einst das Hotel Overlook gestanden hatte, erhob sich eine hohe, gerüstartige Plattform vor dem hellen Himmel. Das Dach der Welt. Während er es betrachtete, kam ihm derselbe Gedanke
(Galgen)
der Rose the Hat gekommen war. Am Geländer stand die Silhouette einer einzelnen Gestalt, die südwärts zum Parkplatz blickte. Eine Frau. Auf ihrem Kopf saß schräg ein Zylinder.
(Abra bist du da)
(ja bin ich)
Ihrer Stimme nach zu urteilen, war sie die Ruhe selbst. Genau so wollte er es haben.
(hören sie dich)
Das löste eine vage, kitzelnde Empfindung aus: ihr Lächeln. Das zornige.
(wenn die mich nicht hören sind sie taub)
Das genügte.
(du musst jetzt zu mir kommen aber denk dran wenn ich dir sage geh dann GEHST DU)
Sie antwortete nicht, und bevor er es ihr noch einmal sagen konnte, war sie da.
6
Die beiden Stones und John Dalton sahen hilflos zu, wie Abra zur Seite sank, bis sie mit dem Kopf auf den Bohlen der Treppe ruhte. Die Beine lagen gespreizt auf den Stufen darunter. Hoppy fiel aus ihrer erschlaffenden Hand. Sie sah nicht so aus, als würde sie schlafen oder wäre in Ohnmacht gefallen – so lag man da, wenn man bewusstlos oder tot war. Lucy wollte zu ihr stürzen, aber Dave und John hielten sie zurück.
Sie wehrte sich. »Lasst mich los! Ich muss ihr helfen!«
»Das kannst du nicht«, sagte John. »Jetzt kann nur Dan ihr helfen. Das heißt, die beiden müssen sich gegenseitig helfen.«
Sie starrte ihn mit panisch aufgerissenen Augen an. »Atmet sie überhaupt noch? Kannst du das sehen?«
»Sie atmet«, sagte Dave, was sich jedoch selbst in seinen Ohren unsicher anhörte.
7
Als Abra zu ihm stieß, ließen die Schmerzen zum ersten Mal seit Boston nach. Was Dan nicht besonders tröstete, denn nun litt Abra ebenfalls. Das sah er an ihrem Gesicht, aber er sah auch die Verwunderung in ihren Augen, als sie sich in dem Raum, in dem sie sich nun befand, umblickte. Er besaß mit Fichte getäfelte Wände und enthielt ein Etagenbett. Auf dem mit Kakteen und anderen Wüstenpflanzen bestickten Teppich und auf dem unteren Bett lag allerhand billiges Spielzeug. Auf einem kleinen Tisch in der Ecke lagen Bücher und ein Puzzle mit großen Einzelteilen. In der hinteren Ecke des Zimmers klopfte und zischte ein Heizkörper.
Abra ging zum Schreibtisch und nahm eines der Bücher in die Hand. Auf dem Einband jagte ein Hündchen hinter einem kleinen, auf einem Dreirad sitzenden Mädchen her. Der Titel lautete Lesespaß mit Dick und Jane .
Dan trat mit einem nachdenklichen Lächeln auf den Lippen zu ihr. »Das kleine Mädchen auf dem Einband heißt Sally. Dick und Jane sind ihre Geschwister. Und der kleine Hund heißt Jip. Eine Weile waren die vier meine besten Freunde. Meine einzigen Freunde, genauer gesagt. Mit Ausnahme von Tony natürlich.«
Sie legte das Buch weg und wandte sich ihm zu. »Was ist dieser Ort, Dan?«
»Eine Erinnerung. Früher stand hier ein Hotel, und das hier war mein Zimmer. Jetzt ist es ein Ort, an dem wir zusammen sein können. Du kennst ja das Rad, das sich dreht, wenn man in jemand andres hineinschlüpft.«
»Mhm …«
»Dies ist seine Mitte. Die Nabe.«
»Am liebsten würde ich hierbleiben. Es fühlt sich … sicher an. Von dem da einmal abgesehen.« Abra zeigte auf eine Doppeltür mit langen Glasscheiben. »Die fühlt sich nicht so an wie alles andere.« Ihr Blick war fast anklagend. »Die war früher nicht da. Stimmt doch, oder? Damals, als du ein Kind warst, meine ich.«
»Nein. Mein Zimmer hatte keine Fenster, und die einzige Tür führte in die Hausmeisterwohnung, zu der es gehörte. Das habe ich verändert. Ich musste es tun. Weißt du, warum?«
Sie betrachtete ihn mit ernstem Blick. »Weil das damals war, und dies ist jetzt. Weil die Vergangenheit vorüber ist, auch wenn sie die Gegenwart bestimmt.«
Er lächelte zufrieden. »Das hätte ich auch nicht besser sagen können.«
»Du musstest es nicht sagen. Du hast es gedacht.«
Er zog sie zu der Glastür, die nie existiert hatte. Durch die Scheiben sahen sie den Rasen, die Tennisplätze, die Overlook Lodge und das Dach der Welt.
»Ich sehe sie«, flüsterte Abra. »Sie ist da oben, und sie sieht nicht hierher, oder?«
»Hoffentlich nicht«, sagte Dan. »Tut es sehr weh, Kleines?«
»Ja, sehr«, antwortete sie. »Aber das ist mir egal. Weil …«
Sie musste den Satz nicht vollenden. Er wusste, was sie meinte, und sie lächelte. Dieses spezielle beiderseitige Zusammengehörigkeitsgefühl war einzigartig, und trotz den damit verbundenen Schmerzen – Schmerzen jeder Art – war es gut. Es war sogar sehr gut.
»Dan?«
»Ja, Kleines.«
»Da draußen sind Geisterleute. Ich kann sie zwar nicht sehen, aber ich spüre sie. Du auch?«
»Ja.« Er spürte sie schon jahrelang. Weil die Vergangenheit die Gegenwart bestimmte. Er legte Abra den Arm um die Schultern, und ihr Arm schob sich langsam um seine Taille.
»Was tun wir jetzt?«
»Auf Billy warten. Ich hoffe, er kommt rechtzeitig. Und dann wird alles sehr schnell gehen.«
»Onkel Dan?«
»Was, Abra?«
»Was ist da in dir? Das ist kein Geist. Es ist wie …« Er spürte, wie sie schauderte. »Es ist wie ein Monster .«
Er sagte nichts.
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