Mr. Raddish machte eine Pause.
»Und dann ist das Kind verhungert«, schloß er im gleichen Tonfall, in dem er auch hätte sagen können, es würde gleich zu regnen anfangen.
»Und jetzt nimmt man an, daß der Geist des Kindes in dem Haus herumspukt?« fragte Mrs. Lancaster.
»Es ist nichts von Bedeutung«, beeilte sich Mr. Raddish zu versichern. »Man hat nie etwas gesehen, nur - es ist natürlich lächerlich, wenn die Leute behaupten, sie hörten das Kind weinen, wissen Sie.«
Mrs. Lancaster ging auf die Haustür zu.
»Mir gefällt das Haus«, entschied sie. »Für diesen Preis werde ich nichts Besseres finden. Ich werde darüber nachdenken, dann gebe ich Ihnen Bescheid.«
»Es sieht wirklich heiter aus, nicht wahr, Papa?«
Mrs. Lancaster betrachtete ihr neues Besitztum voller Genugtuung. Bunte Teppiche, glänzend polierte Möbel und viele Nippsachen hatten die Nummer 19 mit ihrer Düsterkeit völlig verwandelt.
Sie sprach mit einem mageren, etwas gebeugten alten Mann mit krummen Schultern und einem feingeschnittenen, geheimnisvollen Gesicht.
Mr. Winburn hatte keinerlei Ähnlichkeit mit seiner Tochter, man konnte sich kaum einen stärkeren Gegensatz vorstellen. Sie war resolut und praktisch, er verträumt und abwesend.
»Ja«, antwortete er lächelnd, »keiner käme auf die Idee, in dem Haus einen Spuk zu vermuten.«
»Papa, rede keinen Unfug! Und das an unserem ersten Tag.«
Mr. Winburn lächelte.
»Nun gut, mein Liebling, einigen wir uns darauf, daß es so etwas wie Geister nicht gibt.«
»Und bitte«, fuhr Mrs. Lancaster fort, »erwähne nichts davon vor Geoff. Er hat zuviel Phantasie.«
Geoff war Mrs. Lancasters kleiner Bub. Die Familie bestand aus Mr. Winburn, seiner verwitweten Tochter und Geoffrey.
Der Regen schlug gegen die Fensterscheiben - tripp-trapp, tripp-trapp.
»Hör mal?« fragte Mr. Winburn. »Klingt das nicht wie kleine Schritte?« »Es klingt nach Regen«, sagte Mrs. Lancaster mit einem Lächeln.
»Aber das - das sind Schritte«, schrie ihr Vater und beugte sich vor, um besser lauschen zu können.
Mrs. Lancaster lachte laut auf.
»Tatsächlich, du hast recht. Da kommt Geoff die Treppe herunter.«
Mr. Winburn mußte auch lachen. Sie tranken Tee im Salon, und er hatte mit dem Rücken zur Treppe gesessen. Jetzt rückte er seinen Stuhl herum, um besser zur Treppe sehen zu können.
Da kam gerade der kleine Geoffrey herunter, ziemlich langsam und zögernd, mit der Scheu des Kindes vor einem fremden Haus. Die Treppen waren aus polierter Eiche, und es lag kein Läufer darauf. Er kam herüber und stellte sich neben seine Mutter. Mr. Winburn fuhr leicht hoch. Während das Kind durch die Halle gekommen war, hatte er deutlich andere Fußtritte auf der Treppe gehört, wie von jemandem, der Geoffrey nachschlich. Schleppende Schritte, die merkwürdig gequält klangen. Dann zuckte Mr. Winburn ungläubig die Achseln. Sicher der Regen, sicher der Regen, dachte er.
»Ich sehe, ihr habt Sandkuchen«, bemerkte Geoff mit der bewundernswert unbeteiligten Miene von jemandem, der eine interessante Tatsache hervorhebt.
Seine Mutter beeilte sich, seinem Wink zu entsprechen.
»Nun, mein Schatz, wie gefällt dir dein neues Heim?« fragte sie.
»Au, prima«, entgegnete Geoffrey, eifrig kauend. »Ganz prima, einmalig.«
Nach dieser letzten Aussage, die offensichtlich Ausdruck tiefster Zufriedenheit war, verfiel er in Schweigen, einzig noch bedacht, den Sandkuchen in kürzestmöglicher Frist aus menschlicher Sicht zu entfernen. Nachdem er den letzten Bissen hinuntergeschlungen hatte, begann er zu erzählen.
»O Mami, hier gibt's Speicher, sagt Jane. Kann ich gleich mal raufgehen und sie untersuchen? Vielleicht gibt's da Geheimtüren. Jane sagt, es gebe keine, aber es gibt doch welche - bestimmt, und ich weiß auch, daß es dort Wasserleitungen gibt. Kann ich damit spielen, und darf ich mal den Bo-i-ler sehen?«
Das vorletzte Wort hatte er mit einer solchen Begeisterung ausgesprochen, wobei seinem Großvater ärgerlich einfiel, daß dieses Objekt kindlichen Entzückens in seiner eigenen Beurteilung leider nur die Vorstellung von heißem Wasser, das gar nicht warm war, aber von hohen und zahlreichen Rechnungen der Rohrleger hervorrief.
»Die Speicher werden wir uns morgen ansehen, mein Kind«, sagte Mrs. Lancaster. »Wie wäre es denn, wenn du dir deine Bauklötze holtest und ein hübsches Haus bautest? Oder eine Lokomotive?«
»Will kein Haus bauen, und auch keine Lokomotive.«
»Bau doch einen Boiler«, schlug der Großvater vor. Geoffrey strahlte.
»Mit Leitungen?«
»Ja, mit ganz vielen Leitungen, hörst du?«
Geoffrey rannte schon glückstrahlend los, seine Bauklötze zu holen.
Es regnete noch immer. Mr. Winburn lauschte. Ja, es mußte doch wohl der Regen gewesen sein, was er da gehört hatte; aber es hatte sich täuschend ähnlich wie Schritte angehört.
In der darauffolgenden Nacht hatte er einen sonderbaren Traum.
Er träumte, er spaziere durch die Stadt - eine Großstadt, wie ihm schien. Aber es war eine Kinderstadt. Es gab überhaupt keine Erwachsenen darin; nur Kinder, in ganzen Mengen. In seinem Traum rannten sie alle auf den Fremden zu, indem sie schrien:
»Hast du ihn mitgebracht?«
Ihm schien, er habe verstanden, was sie meinten, und schüttelte den Kopf. Als die Kinder das sahen, wandten sie sich ab und begannen zu weinen und bitterlich zu schluchzen. Die Stadt und die Kinder entschwanden, und er erwachte.
Er lag in seinem Bett, aber das bitterliche Schluchzen war noch in seinen Ohren. Obwohl hellwach, hörte er es ganz deutlich. Da fiel ihm ein, daß Geoffrey im Stockwerk unter ihm schlief, während das Geräusch kindlichen Jammers von oben kam. Er setzte sich auf und zündete ein Streichholz an. Sofort hörte das Schluchzen auf.
Mr. Winburn sagte seiner Tochter nichts von seinem Traum und dem, was er gehört hatte. Er war davon überzeugt, daß es kein Streich oder gar eine Einbildung seinerseits war. Tatsächlich hörte er bald darauf wieder etwas, und zwar am hellichten Tag. Der Wind heulte im Kamin, aber da war noch ein anderes Geräusch - deutlich hörbar, unmißverständlich: herzzerreißende kleine Schluchzer.
Er bekam auch bald heraus, daß er nicht der einzige war, der dies hörte. Er kam hinzu, wie das Dienstmädchen zum Stubenmädchen sagte, daß sie glaube, das Kindermädchen sei nicht gut zum kleinen Geoffrey, denn sie hätte gehört, wie schrecklich er heute morgen geweint habe. Später kam Geoffrey zum Frühstück und zum Mittagessen herunter, strahlend vor Gesundheit und Glück. Und Mr. Winburn wußte, daß es nicht Geoff gewesen sein konnte, den das Dienstmädchen weinen gehört hatte, sondern das andere Kind, dessen schleppende Schritte ihn eben mehr als einmal hatten hochfahren lassen.
Nur Mrs. Lancaster hörte nichts. Ihre Ohren waren vielleicht nicht empfänglich für Geräusche aus einer anderen Welt. Doch eines Tages erhielt auch sie einen Schock.
»Mami«, sagte Geoffrey mit kläglicher Stimme. »Ich möchte, daß du mich mit dem kleinen Jungen spielen läßt.«
Mrs. Lancaster sah mit einem Lächeln von ihrem Schreibtisch auf.
»Mit was für einem Jungen denn, mein Liebling?«
»Ich weiß nicht, wie er heißt. Er war auf dem Speicher, er saß da auf dem Fußboden und weinte, aber er rannte weg, als er mich sah. Ich glaube, er ist sehr scheu« - ein Schimmer von Zufriedenheit huschte dabei über Geoffreys Gesichtchen -, »nicht wie ein richtiger Junge; und dann, als ich im Spielzimmer war, habe ich ihn wieder gesehen. Er stand in der Tür und sah mir zu, wie ich mit den Bauklötzen spielte, dabei sah er so schrecklich allein aus und so, als ob er mit mir spielen wollte. Ich habe gesagt: >Komm und bau eine Lokomotive.< Aber er sagte nichts, er schaute nur so. Weißt du, Mami - als ob er ganz viel Schokolade sähe, aber seine Mami ihm verboten hätte, davon zu nehmen.«
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