»Genau. Dieser d’Artagnan ist sozusagen das Verbindungsglied, der am wenigsten bekannte von den dreien. Er existierte sowohl in der Wirklichkeit als auch in der Literatur, und ihn hat Dumas als Vorbild für seinen Romanhelden benützt. Gatien de Courtilz de Sandras war ein Zeitgenosse d’Artagnans, als Schriftsteller erkannte er das Romanhafte an dieser Gestalt und machte sich ans Werk. Einhundertfünfzig Jahre später stieß Dumas während eines Aufenthalts in Marseille auf sein Buch. Der Herr des Hauses, in dem er beherbergt wurde, hatte einen Bruder, der Vorsteher der Stadtbücherei war. Dieser hat ihm das Buch gezeigt, das im Jahr 1700 in Köln erschienen war. Dumas begriff sofort den Nutzen, den er daraus ziehen konnte, lieh es sich aus und hat es nie wieder zurückgegeben.«
»Was wissen wir über Dumas’ Vorgänger, über Gatien de Courtilz?«
»Ziemlich viel. Nicht zuletzt, weil er eine umfangreiche Akte bei der Polizei hatte. Er wurde 1644 oder 1647 geboren und war Musketier, Kornett bei der Royal-Étranger, eine Art Fremdenlegion der Zeit, und Rittmeister im Regiment von Beaupré-Choiseul. Er hat am selben Krieg teilgenommen wie d’Artagnan, nur daß dieser gefallen ist, während Courtilz nach Kriegsende in Holland blieb und den Degen gegen die Feder eintauschte, um Biographien zu verfassen, historische Essays, mehr oder weniger apokryphe Memoiren und anstößige Klatschgeschichten über den französischen Hof. Damit hat er sich dann allerdings in die Brennesseln gesetzt. Seine Memoiren des Herrn d’Artagnan waren ein richtiger Renner: fünf Auflagen in zehn fahren, aber Ludwig XIV. mißfiel die Respektlosigkeit, mit der er gewisse Details aus der Intimsphäre der königlichen Familie und ihrer Anhänger an die Öffentlichkeit zerrte. Kaum nach Frankreich zurückgekehrt, wurde Courtilz festgenommen und auf Kosten des Staates bis kurz vor seinem Tod in der Bastille einlogiert.«
Ich machte eine Pause, die der Schauspieler auf denkbar ungelegene Weise ausnützte, um ein Zitat aus Marquinas In Flandern ging die Sonne unter loszuwerden. Nichts als ein weiterer, schamloser Versuch, sich vor der Journalistin hervorzutun, deren Schenkel seine Hand bereits völlig in Besitz genommen hatte. Die anderen, besonders der Schriftsteller, der unter dem Pseudonym Emilia Forster schrieb, warfen ihm neidische oder übelwollende Blicke zu.
Nach kurzem Schweigen beschloß Corso, mich in die Kommandogewalt wiedereinzusetzen.
»Was hat Dumas’ d’Artagnan Courtilz zu verdanken?«
»Er hat ihm viel zu verdanken. Obwohl in Zwanzig Jahre nachher und im Grafen von Bragelonne auch noch andere Quellen herangezogen werden, sind die Drei Musketiere im Kern bereits völlig bei Courtilz angelegt. Dumas bringt sein Genie zur Anwendung und verleiht der Geschichte Tiefe, aber die meisten Episoden finden sich, wenigstens ansatzweise, schon bei Courtilz: der Segen, mit dem d’Artagnans Vater seinen Sohn entläßt, der Brief an Herrn de Treville, das Duell mit den Musketieren, die in der Textvorlage Brüder sind. Selbst Milady taucht schon auf. Und die beiden d’Artagnans gleichen einander aufs Haar. Der von Courtilz ist vielleicht etwas zynischer, etwas egoistischer und verschlossener, aber sonst gibt es keinen Unterschied.«
Corso beugte sich ein wenig nach vorn.
»Vorher sagten Sie, Rochefort symbolisiere das Böse, die üblen Machenschaften gegen d’Artagnan und seine Freunde. Aber Rochefort ist doch nicht mehr als ein Sbirre.«
»Ganz richtig. Ein Sbirre im Dienste seiner Eminenz, Armand Jean du Plessis, Kardinal Richelieu .«
»Der Bösewicht«, warf der Schauspieler ein, der zu allem seinen Senf dazugeben mußte. Die Studenten, die von unserem Ausflug ins Reich des Feuilletonromans ganz überwältigt waren, lauschten uns an diesem Abend mit offenem Mund oder schrieben eifrig mit. Nur das Mädchen mit den grünen Augen zeigte sich wenig beeindruckt und blieb immer ein wenig am Rande, als sei sie nur zufällig hier vorbeigekommen.
»Für Dumas«, fuhr ich fort, »gibt Richelieu - wenigstens im ersten Teil des Musketierzyklus - eine Figur ab, die in keinem romantischen Abenteuer- oder Schauerroman fehlen darf: die Figur des mächtigen Feindes, der im Trüben fischt, die Inkarnation des Bösen. Für die Geschichte Frankreichs war Richelieu ein bedeutender Mann, aber in den Drei Musketieren wird er erst zwanzig Jahre später rehabilitiert. Auf diese Weise versöhnt sich der schlaue Dumas mit der Realität, ohne den Interessen seines Romans zuwiderzuhandeln.
Er ersetzte Richelieu durch einen anderen Bösewicht: Maza-rin. Diese Retusche, die er ausgerechnet d’Artagnan und seinen Kameraden in den Mund legt, dort, wo diese postum die Größe ihres ehemaligen Feindes preisen, ist natürlich unmoralisch -für Dumas stellte sie einen bequemen Akt der Reue dar. Aber das soll uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß Richelieu im ersten Band der Trilogie perfekt die Rolle des Unholds verkörpert: Er plant die Ermordung Buckinghams, will Anna von Österreich ins Verderben stürzen und läßt der ruchlosen Milady freie Hand. Seine Eminenz, der Kardinal, ist für d’Artagnan das, was Professor Moriarty für Sherlock Holmes ist. Ein unheimlicher, diabolischer Widersacher .«
Corso unterbrach mich mit einer Geste der Hand, und das wunderte mich, denn ich begann sein Verhalten langsam zu durchschauen und hätte nicht gedacht, daß er seinem Gesprächspartner ins Wort fallen würde, bevor dieser nicht sein ganzes Wissen preisgegeben hatte.
»Sie haben zweimal das Wort diabolisch benützt«, sagte er mit einem Blick in seine Aufzeichnungen. »Und beide Male mit Bezug auf Richelieu ... War der Kardinal denn ein Anhänger des Okkultismus?«
Diese Worte schufen eine eigentümliche Situation. Das junge Mädchen hatte sich Corso zugewandt, um ihn neugierig zu betrachten. Er sah mich an und ich das Mädchen. Aber der Bücherjäger achtete nicht auf diese seltsame Dreieckskonstellation und wartete nur auf meine Antwort.
»Richelieu hatte viele Interessen«, erwiderte ich. »Während er Frankreich in eine Großmacht verwandelte, fand er nebenher noch Zeit, Gemälde, Gobelins, Porzellan und Plastiken zu sammeln. Er war auch ein bedeutender Bibliophiler, der seine Bücher in rotes Maroquin und in Kalbsleder binden ließ.«
»Und die Deckel trugen sein Wappen in Silberprägung.« Corso winkte ungeduldig ab. Das waren nebensächliche Details, die er längst wußte. »Es gibt einen berühmten Katalog von Richelieus Büchern.«
»Dieser Katalog ist aber unvollständig, weil viele Werke verlorengegangen sind. Heute werden Teile der Kollektion in der französischen Nationalbibliothek, in der Bibliothèque Mazarin und in der Sorbonne aufbewahrt; andere Bücher befinden sich in privaten Sammlungen. Richelieu besaß hebräische und syrische Handschriften, herausragende Werke der Mathematik, Medizin, Theologie, Geschichte und Jurisprudenz ... Und Sie haben mit Ihrer Frage den Nagel auf den Kopf getroffen: Was die Wissenschaftler am meisten überraschte, sind die zahlreichen alten Schriften über den Okkultismus, angefangen von der Kabbala bis hin zu Büchern über die Schwarze Magie.«
Corso schluckte, ohne mich aus den Augen zu lassen. Er wirkte gespannt wie die Saite eines Bogens, die im nächsten Moment mit einem domp zurückschnellt.
»Können Sie mir Titel nennen?«
Ich schüttelte den Kopf. Seine Hartnäckigkeit begann mich neugierig zu machen. Das Mädchen folgte unserem Gespräch immer noch aufmerksam, aber es war offensichtlich, daß sein Interesse jetzt nicht mir galt.
»Tut mir leid«, sagte ich dann.
»So weit reichen meine Kenntnisse über Richelieu leider nicht.«
»Und Dumas? War er auch ein Anhänger der Geheimwissenschaften?«
Diesmal war meine Antwort kategorisch.
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