Ich betrachtete die Lichter des Abend Verkehrs, der auf dem Boulevard vorbeifloß, draußen, vor dem Fenster des Cafés, in dem ich mich regelmäßig mit Freunden zu einem literarischen Stammtisch treffe. Wir saßen um einen Tisch voller Zeitungen, Tassen und rauchender Aschenbecher. Außer Corso und mir waren ein paar Schriftsteller gekommen, ein erfolgloser Maler und eine um so erfolgreichere Journalistin, ein Theaterschauspieler und vier oder fünf Studenten, die wie immer mucksmäuschenstill in einer Ecke hockten und mich anstarrten wie einen Halbgott. Corso saß an die Fensterscheibe gelehnt im Mantel da, trank Gin und machte sich ab und zu eine Notiz.
»Eins steht fest«, fuhr ich fort. »Der Leser, der sich durch die siebenundsechzig Kapitel der Drei Musketiere kämpft und einem Duell zwischen Rochefort und d’Artagnan entgegenfiebert, wird bitter enttäuscht. Dumas bereinigt die Angelegenheit in drei Zeilen und läßt das oder besser die Duelle einfach unter den Tisch fallen. Wenn wir Rochefort in Zwanzig fahre nachher wieder begegnen, so stellen wir nur fest, daß er sich inzwischen dreimal mit d’Artagnan geschlagen hat und ebensooft von ihm verwundet wurde - die Narben an seinem Körper sind der Beweis. Nichtsdestotrotz ist ihr gegenseitiger Haß einem heuchlerischen Respekt gewichen, wie er nur zwischen ehemaligen Feinden möglich ist. Ihr abenteuerliches Leben führt dazu, daß sie erneut in unterschiedlichen Lagern kämpfen. Aber jetzt herrscht zwischen ihnen die komplizenhafte Verbundenheit zweier Ehrenmänner, die sich seit zwanzig Jahren kennen ... Rochefort zieht sich die Ungnade Mazarins zu, entflieht aus der Bastille, ist an der Flucht des Herzogs von Beaufort beteiligt, schließt sich der Fronde an und stirbt in den Armen d’Artagnans, der ihn inmitten des Tumults nicht erkennt und mit seinem Degen durchbohrt. Das Schicksal will es so, sagt er zu dem Gascogner. Von dreien Eurer Degenstiche bin ich genesen, aber den vierten werde ich nicht überleben. Dann schließt er für immer die Augen. Ich habe soeben einen alten Freund getötet, erzählt d’Artagnan später seinem Kameraden Porthos. Mehr wird dem alten Spion Richelieus nicht auf den Grabstein geschrieben.«
Meine Erläuterungen setzten eine angeregte Diskussion in Gang. Der Schauspieler, ein alter Galan, der in einer Fernsehserie die Rolle des Grafen von Monte Christo gespielt hatte und an diesem Abend keine Sekunde lang die Journalistin aus den Augen verlor, begann, von dem Maler und den beiden Schriftstellern angefeuert, seine Erinnerungen zum besten zu geben und brillante Schilderungen der Romanfiguren zu liefern. Von Dumas kamen wir auf Zevaco und Paul Feval zu sprechen, und schließlich auf Salgari, dem wir wieder einmal das überragende Können Sabatinis gegenüberstellten. Ich erinnere mich, daß irgend jemand schüchtern den Namen Jules Verne erwähnte, aber sofort von allen ausgebuht wurde. Im Kontext leidenschaftlicher Mantel-und-Degen-Stücke, in dem wir uns bewegten, waren Vernes kalte, herzlose Helden völlig fehl am Platze.
Was die Publizistin betraf - eine jener Modejournalistinnen mit eigener Kolumne in der Sonntagsausgabe einer bekannten Tageszeitung -, so begann ihr literarisches Gedächtnis bei Milan Kundera, weshalb sie die meiste Zeit vorsichtige Zurückhaltung übte, nur dann und wann erleichtert nickte, wenn ein Titel, eine Anekdote oder eine Figur - der Schwarze Schwan, Yafiez, der Degenstich Nevers - sie an einen Film erinnerten, den sie im Fernsehen gesehen hatte. Corso dagegen betrachtete mich mit der ruhigen Ausdauer eines Jägers über den Rand seines Gin-Glases hinweg, als lauere er nur auf eine Gelegenheit, das Gespräch wieder auf sein Thema zu lenken. Und so nützte er denn auch sofort das peinliche Schweigen aus, das sich über unsere Runde legte, nachdem die Journalistin verkündet hatte, sie fände Abenteuerromane zu oberflächlich -meinen Sie nicht auch? Irgendwie seicht. Wie soll ich sagen.
Corso knabberte am Radiergummi seines Bleistifts.
»Senor Balkan, wie ist Ihrer Meinung nach die Figur Roche-forts innerhalb der Geschichte zu interpretieren?«
Die Blicke der Versammelten richteten sich auf mich und besonders die der Studenten, unter denen sich zwei Mädchen befanden. Ich weiß wirklich nicht, warum ich in bestimmten Kreisen als eine Art Bonze der schönen Künste gelte und alles andächtig verstummt, sobald ich den Mund aufmache. Egal, was ich von mir gebe, es wird aufgenommen wie ein Glaubensdogma. Ein Artikel von mir, in der entsprechenden Literaturzeitschrift veröffentlicht, kann einen jungen Schriftsteller in den Himmel heben oder für immer verdammen. Absurd, ich weiß, aber so ist das Leben. Denken Sie nur an den letzten Nobelpreisträger, den Autor von Ich, Onän, Auf der Suche nach mir selbst und des weltberühmten Oui, c ’est moi. Ich war es, der ihn vor fünfzehn Jahren, am achtundzwanzigsten Dezember, mit einem eineinhalb Seiten langen Artikel in Le Monde dem Lesepublikum vorgestellt habe - auch wenn ich mir das nie verzeihen werde.
»Am Anfang ist Rochefort der Feind schlechthin«, begann ich zu erklären. »Er symbolisiert die dunklen Mächte, das Böse ... Er steht im Zentrum des diabolischen Komplotts gegen d’Artagnan und seine Freunde, der mörderischen Ränke, die der Kardinal hinter ihrem Rücken spinnt .«
Ich sah, daß eine der Studentinnen lächelte, geistesabwesend und beinahe etwas spöttisch. Ob sie dazu meine Worte veran-laßten oder irgendwelche geheimen Gedanken, die vielleicht gar nichts mit unserem Stammtisch zu tun hatten, war nicht zu erraten. Jedenfalls überraschte mich dieses Lächeln, denn wie schon gesagt, war ich daran gewöhnt, daß man mir mit demselben Respekt zuhörte, mit dem ein Redakteur des L’Osservatore Romano den Text einer päpstlichen Enzyklika in Empfang nehmen würde, den er exklusiv bekommt. Das bewirkte, daß ich mich etwas eingehender mit ihr beschäftigte, obwohl mir ihre aufregenden grünen Augen und ihr knabenhaft kurz geschnittenes Haar schon zu Beginn aufgefallen waren, als sie sich in ihrem blauen Kapuzenmantel, einen Stoß Bücher unterm Arm, zu uns gesellt hatte. Jetzt saß sie etwas abseits von der Gruppe und hörte zu. Es gibt immer junge Leute um unseren Tisch herum, meistens Literaturstudenten, die ich zu einem Kaffee einlade, aber dieses Mädchen war noch nie erschienen. Ihre Augen konnte man unmöglich vergessen - sie waren klar, beinahe durchsichtig, und kontrastierten mit dem braungebrannten Gesicht, das auf viel Sonne und frische Luft hindeutete. Sie hatte einen schlanken, biegsamen Körper und lange Beine, die ich mir unter ihrer Jeans ebenfalls braun vorstellte. Und noch etwas fiel mir an ihr auf: Sie trug keinerlei Schmuck, weder einen Ring noch eine Uhr, noch Clips an den Ohrläppchen, die im übrigen auch nicht durchstochen waren.
»Rochefort ist aber auch der Mann, den man nie zu fassen bekommt: Kaum hat man ihn gesichtet, so taucht er schon wieder unter«, fuhr ich fort, als es mir endlich gelang, den Faden wieder aufzunehmen. »Sein Gesicht mit der Narbe könnte man als die Maske des Mysteriösen bezeichnen. Er verkörpert das Paradox, die Machtlosigkeit d’Artagnans, der ihn verfolgt, aber nie erwischt, töten möchte, das aber erst nach zwanzig Jahren schafft, überdies unbeabsichtigt, da die beiden mittlerweile keine Feinde mehr sind, sondern Freunde.«
»Dein d’Artagnan scheint das Unglück ja förmlich anzuziehen«, bemerkte einer meiner Bekannten - der ältere der beiden Schriftsteller. Von seinem letzten Roman waren nur fünfhundert Exemplare verkauft worden, dafür verdiente er aber ein Heidengeld mit Krimis, die er unter dem perversen Pseudonym Emilia Forster veröffentlichte. Ich quittierte seine treffende Bemerkung mit einem anerkennenden Blick.
»Das kann man laut sagen. Die große Liebe seines Lebens wird vergiftet. Er selbst muß sich trotz seiner Heldentaten und der unbezahlbaren Dienste, die er der französischen Krone leistet, zwanzig Jahre lang mit dem bescheidenen Rang eines Leutnants der Musketiere zufriedengeben. Und als er in den letzten Zeilen des Grafen von Bragelonne nach vier Bänden und vierhundertfünfundzwanzig Kapiteln endlich zum Marschall befördert wird, tötet ihn kurz darauf eine holländische Kugel.«
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