Während ihm Regentropfen ins Gesicht fielen, zog er noch einmal an seiner Zigarette und ließ sie dann auf die Straße fallen, ein roter Punkt, der in der Dunkelheit verglühte, eine unterbrochene - oder unsichtbare - Bahn in den Schatten.
Diese Nacht würde es auch über anderen Gegenden regnen. Über den letzten Spuren Nikons. Über den Feldern um Waterloo, dem Ururgroßvater Corsos und seinen Kameraden. Über dem Grab Julien Sorels, der guillotiniert worden war, weil er geglaubt hatte, die Zeit der Helden sei nach dem Verschwinden Bonapartes endgültig vorbei. Ein Irrtum. Lucas Corso wußte es besser, er wußte, daß es immer noch möglich war, sich ein Schlachtfeld zu suchen und sich seinen Lohn als Söldner zu verdienen, der luzid blieb, selbst wenn die Schlacht verloren war. Im dunklen Raunen Tausender von Verlierern, die auf dem Rückzug waren, hielt er standhaft Wache zwischen Gespenstern aus Papier und Leder.
III. Männer des Degens und Männer der Feder
»Tote reden nicht.«
»Sie reden, wann Gott will«, erwiderte Lagardere.
P. Feval, Der Bucklige
Die Absätze der Sekretärin klapperten auf dem gebohnerten Parkettboden. Lucas Corso folgte ihr über einen breiten Korridor - cremefarbene Wände, indirekte Beleuchtung, Hintergrundmusik - bis zu einer schweren Eichentür. Er kam ihrer Aufforderung nach, einen Augenblick zu warten, dann öffnete ihm die Sekretärin mit einem kurzen, unpersönlichen Lächeln das Büro. Varo Borja saß in einem Sessel aus schwarzem Leder, zwischen einer halben Tonne Mahagoniholz und einem Fenster, das einen wundervollen Blick auf Toledo bot: alte, ockerfarbene Dächer, die gotische Turmspitze der Kathedrale, die sich gegen den klaren, azurblauen Himmel abhob, und im Hintergrund die graue Silhouette des Alcazar.
»Setzen Sie sich, Corso. Wie geht es Ihnen?«
»Gut.«
»Ich habe Sie warten lassen.«
Das war keine Entschuldigung, sondern eine Feststellung. Corso verzog den Mund.
»Macht nichts. Diesmal waren es ja nur fünfundvierzig Minuten.«
Varo Borja hielt es nicht einmal für nötig, zu lächeln, während Corso Platz nahm. Der Schreibtisch war leer bis auf eine komplizierte Telefon- und Sprechanlage in modernem Design. Auf der Tischplatte spiegelte sich das Gesicht des Antiquars mit der Fensterlandschaft als Hintergrunddekoration. Varo
Borja war um die Fünfzig, er hatte eine solariumgebräunte Glatze und bemühte sich, den Eindruck eines achtbaren Menschen zu vermitteln, der er in Wirklichkeit nicht war. Seine Augen waren klein, flink und hinterlistig. Die füllige Taille vertuschte er mit engen, lebhaft gemusterten Westen, über denen er maßgeschneiderte Sakkos trug. Er war ein Marqués soundso und hatte eine bewegte und ziemlich windige Vergangenheit hinter sich, die eine Vorbestrafung ebenso einschloß wie einen Betrugsskandal und vier fahre freiwilliges Exil in Brasilien und Paraguay, zu dem ihm die Vorsicht geraten hatte.
»Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Seine ruppigen Umgangsformen waren genau kalkuliert und hatten oft etwas Flegelhaftes. Corso sah, wie er sich erhob, zu einer kleinen Vitrine ging und diese mit einem Schlüsselchen öffnete, das er an einer goldenen Kette aus seiner Westentasche zog. Varo Borja hatte kein Geschäft, das dem allgemeinen Publikum zugänglich gewesen wäre, nur einen festen Stand auf den wichtigsten internationalen Antiquariatsmessen. Sein Katalog umfaßte nie mehr als fünfzig ausgewählte Stücke. Er verfolgte die Spuren seltener Bücher bis in die letzten Winkel der Erde, scheute kein noch so brutales Mittel, um in ihren Besitz zu gelangen, und spekulierte dann mit ihnen je nach den Möglichkeiten, die der Markt gerade bot. Auf seiner Warteliste standen von Fall zu Fall Sammler, Konservatoren, Graveure, Buchdrucker und »Lieferanten« wie Lucas Corso.
»Was sagen Sie dazu?«
Corso streckte seine Hand aus, um das Buch mit einer Behutsamkeit entgegenzunehmen, mit der andere ein neugeborenes Kind auf den Arm nehmen. Es hatte einen goldgeprägten Ledereinband und war vorzüglich erhalten.
»Die Hypnerotomachia Poliphili von Colonna«, las er. »Dann haben Sie es also endlich bekommen.«
»Vor drei Tagen. Venedig, 1545. In casa di figlivoli di Aldo.
Einhundertsiebzig Holzschnitte ... Meinen Sie, der Schweizer, von dem Sie mir erzählt haben, wäre immer noch daran interessiert?«
»Ich glaube schon. Ist es denn vollständig?«
»Natürlich. Bis auf vier sind alle Holzschnitte dieser Ausgabe Nachdrucke von 1499.«
»Mein Kunde hätte eine Erstausgabe vorgezogen, aber ich will sehen, ob er sich auch mit einer zweiten Auflage zufriedengibt. Vor fünf Jahren ist ihm auf der Auktion in München ein Exemplar durch die Lappen gegangen.«
»Gut, Sie haben die Option.«
»Geben Sie mir zwei Wochen, um mich mit ihm in Verbindung zu setzen.«
»Ich würde lieber direkt verhandeln.« Varo Borja lächelte wie ein Hai auf der Suche nach einem Badenden. »Selbstverständlich unter Berücksichtigung Ihrer Kommission mit den üblichen Prozenten.«
»Kommt nicht in Frage. Der Schweizer ist mein Kunde.«
Borja lächelte ironisch.
»Sie trauen keinem, stimmt’s? Sollte mich nicht wundern, wenn Sie als Kind die Milch Ihrer Mutter analysiert hätten, bevor Sie Zugriffen.«
»Und Sie haben die Milch Ihrer Mutter wahrscheinlich weiterverkauft.«
Varo Borja musterte den Bücher Jäger, der jetzt überhaupt nichts mehr von einem netten Kaninchen an sich hatte, sondern eher von einem Wolf, der seine Zähne fletschte.
»Wissen Sie, was mir an Ihrem Charakter gefällt, Corso? Die Natürlichkeit, mit der Sie die Rolle des gedungenen Meuchelmörders spielen, inmitten all der Großmäuler und Aufschneider, denen man heutzutage begegnet . Irgendwie erinnern Sie mich an diese hageren und gefährlichen Gestalten, von denen Julius Caesar sich verfolgt fühlte. Wie schlafen Sie eigentlich?«
»Hervorragend.«
»Das ist mit Sicherheit gelogen. Sie gehören zu denen, die stundenlang ins dunkle Zimmer starren - darauf würde ich glatt zwei mittelalterliche Handschriften verwetten. Soll ich Ihnen etwas sagen? Ich mißtraue aus Instinkt Menschen, die hager, zielstrebig und enthusiastisch sind. Ich bediene mich ihrer nur, wenn es sich um hochdotierte Söldner handelt, um Leute ohne familiäre Bindungen und ohne Skrupel. Wer für eine Sache eintritt, sich mit seinem Vaterland oder seiner Familie großtut, ist mir verdächtig.«
Der Antiquar stellte die Hypnerotomachia wieder an ihren Platz zurück. Dann gab er ein trockenes, humorloses Lachen von sich: »Haben Sie Freunde, Corso? Manchmal frage ich mich, ob Typen wie Sie welche haben können.«
»Lecken Sie mich doch am Arsch.«
Diese Aufforderung war in völlig gelassenem Ton geäußert. Varo Borja lächelte langsam und mit Vorbedacht. Er wirkte durchaus nicht gekränkt.
»Sie haben recht. Ihre Freundschaft interessiert mich keine Spur, ich kaufe Ihre Loyalität - die solide, dauerhafte Treue eines Vasallen. Oder nicht? Das berufliche Ehrgefühl eines Soldaten, der seinen Vertrag einhält; auch dann noch, wenn der König, in dessen Sold er steht, die Flucht ergriffen hat, wenn die Schlacht verloren ist und keinerlei Hoffnung auf Rettung mehr besteht .«
Er sah Corso herausfordernd an und wartete auf eine Reaktion. Aber dieser beschränkte sich auf eine Geste der Ungeduld, indem er an die Uhr am linken Arm faßte, ohne darauf zu schauen.
»Den Rest können Sie mir schreiben«, sagte er. »Ich werde nicht dafür bezahlt, daß ich über Ihre Witze lache.«
Varo Borja schien einen Augenblick nachzudenken. Dann nickte er, immer noch erheitert.
»Sie haben schon wieder recht, Corso. Kehren wir zu unseren Geschäften zurück ...« Er sah sich kurz um, bevor er zum Thema kam. »Erinnern Sie sich an das Traktat über die Fechtkunst von Astarloa?«
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