»Das beweist gar nichts.«
»Warum hat der Bote den Zettel nicht Jaos Fahrer gegeben? Jeder kannte Balti. Jeder richtet eventuelle Nachrichten den Fahrern aus. Das ist so üblich. Balti hat draußen im Wagen gewartet. Sie wollten direkt danach zum Flughafen fahren.«
»Vielleicht hat dieser Bote Balti nicht gekannt.«
»Das glaube ich nicht.«
»Dann werden wir Sungpo natürlich sofort auf freien Fuß setzen«, erwiderte Tan mit beißendem Spott.
»Und selbst falls er Balti tatsächlich nicht gekannt hätte, würden die Kellner ihn zum Wagen geschickt haben. Einer der Kellner hat sich ihm auch in den Weg gestellt, weil er glaubte, in Jaos Interesse zu handeln. Doch Jao hatte bereits mit etwas gerechnet oder sich in diesem Moment daran erinnert. Es ging um eine Angelegenheit, die seine sofortige Aufmerksamkeit erforderte. Also hat er mit dem Boten gesprochen. Außer Hörweite des Kellners. Außer Hörweite seines Tisches, an dem die Amerikanerin saß. Außer Hörweite v)n Balti. Und dann ist ihm etwas derart Dringliches mitgeteilt worden, daß er trotz seiner alles andere als spontanen Wesensart sofort seine Pläne geändert hat.«
»Er kannte Sungpo. Vielleicht hat Sungpo die Nachricht geschickt«, sagte Tan.
»Sungpo war in seiner Höhle.«
»Nein. Sungpo war auf der Südklaue, um dort einen Mord zu begehen.«
»Es gibt Zeugen dafür, daß Sungpo seine Höhle nie verlassen hat.«
»Zeugen?«
»Dieser Mann namens Jigme. Der Mönch Je. Beide haben entsprechende Aussagen gemacht.«
»Eine gompa-Waise und ein seniler alter Mann.«
»Mal angenommen, es war Sungpo, der diese Botschaft geschickt hat«, sagte Shan. »Ankläger Jao würde doch niemals allein und ohne Schutz an einen abgelegenen Ort fahren, um sich mit einem Mann zu treffen, den er einst hinter Gitter gebracht hat. Kein Mönch hätte Jao jemals zu einem solchen Verhalten bewegen können. Immerhin wollte der Ankläger auf keinen Fall sein Flugzeug verpassen.«
»Also hat jemand Sungpo geholfen. Jemand hat gelogen.«
»Richtig. Jemand, der Jaos Vertrauen besaß, hat ihn mit Informationen gelockt, die für die Reise des Anklägers wichtig waren und ihm bei seinen geheimen Ermittlungen behilflich sein würden. Informationen, die er in Peking verwenden konnte. Wir müssen mehr darüber herausfinden.«
»Er hatte in Peking nichts Besonderes vor. Du hast Miss Lihuas Fax doch gesehen. Er war bloß auf der Durchreise nach Dahan.« Tan schaute auf die Asche seiner Zigarette, die sich auf der Tischdecke zu einem kleinen Häuflein ansammelte.
»Warum sollte er dann einen Tag Aufenthalt dort einplanen?«
»Das habe ich doch schon gesagt. Um vielleicht einzukaufen oder wegen der Familie.«
»Oder wegen etwas im Zusammenhang mit einer Bambusbrücke.«
»Bambusbrücke?« »Das stand auf einem Zettel in seiner Jacke.«
»Welcher Jacke?«
»Ich habe sein Jackett gefunden.«
Tan wirkte plötzlich ganz aufgeregt. »Du hast den khampa gefunden, nicht wahr? Dem stellvertretenden Ankläger hast du zwar das Gegenteil erzählt, aber in Wahrheit hast du ihn gefunden.«
»Ich bin nach Kham gefahren, und ich habe das Jackett des Anklägers gefunden. Mehr konnten wir nicht erreichen. Balti hatte nichts damit zu tun.«
Tan lächelte billigend. »Ganz schön reife Leistung, mitten in der Wildnis eine einsame Jacke aufzustöbern.« Er drückte seine Zigarette aus und blickte dann ernster wieder auf. »Wir haben Erkundigungen über deinen Leutnant Chang eingezogen.«
»Hat jemand seine Leiche geborgen?«
»Das ist nicht mein Problem.«
Noch ein Himmelsbegräbnis, dachte Shan. »Aber er war Angehöriger der Armee. Einer Ihrer Leute.«
»Er hat nicht zur Armee gehört. Nicht wirklich.«
»Aber er war bei der 404ten.«
Tan hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu veranlassen. »Er hat fünfzehn Jahre lang dem Büro für Öffentliche Sicherheit angehört. Erst vor einem Jahr wurde er zur Armee versetzt.«
»Das ergibt keinen Sinn«, sagte Shan. Niemand verließ die Elitetruppe der Kriecher, um der Armee beizutreten.
Tan zuckte die Achseln. »Es sei denn, er ist nicht freiwillig gegangen.«
»Und Sie haben nichts davon gewußt?«
»Die Versetzung wurde der Armee erst zwei Tage vor seinem Eintreffen gemeldet.«
»Es könnte noch etwas anderes dahinterstecken«, gab Shan zu bedenken. »Vielleicht hat er auch weiterhin für einen Angehörigen der Öffentlichen Sicherheit gearbeitet.«
»Ohne mein Wissen?«
Shan sah ihn nur an.
Tan preßte die Lippen zusammen und dachte eine Weile darüber nach. »Diese Schweinehunde«, stieß er wütend hervor.
»Wo hat Leutnant Chang vorher Dienst getan?«
»Südlich von hier, in der Grenzregion. Unter Major Yang.«
Also hatte er doch einen Namen, dachte Shan. »Was wissen Sie über diesen Major Yang?«
Tan zuckte die Achseln. »Hart wie ein Fels. Berüchtigt für seine Erfolge bei der Schmugglerjagd. Macht keine Gefangenen. Wird eines Tages General sein.«
»Weshalb, Oberst, sollte ein solch hochgeschätzter Offizier sich die Mühe machen, die Verhaftung Sungpos persönlich vorzunehmen?«
Tans Stirnrunzeln verstärkte sich. »Ist das sicher?«
Shan nickte.
»Ein Mann wie er geht, wohin er will«, sagte Tan und wirkte dabei nicht überzeugt. »Er ist mir keine Rechenschaft schuldig, sondern gehört zur Öffentlichen Sicherheit. Falls er dem Justizministerium behilflich sein möchte, kann ich ihn nicht davon abhalten.«
»Falls ich als leitender Ermittler für die Öffentliche Sicherheit tätig wäre, würde ich wohl kaum in einem leuchtendroten Wagen quer durch den Bezirk fahren oder mit einem alles andere als unauffälligen Helikopter einen kleinen Ausflug aufs Land machen.«
»Vielleicht bist du nur verbittert. Wenn ich mich recht erinnere, wurde deine Hafteinweisung vom Hauptquartier des Büros unterzeichnet. Qin hat es angeordnet, aber das Büro hat es durchgeführt.«
»Vielleicht«, räumte Shan ein. »Aber dennoch hat Leutnant Chang versucht, uns zu ermorden. Und Chang hat vermutlich für den Major gearbeitet.«
Tan schüttelte zweifelnd den Kopf. »Chang ist tot, und du hast nach wie vor eine Aufgabe zu erledigen.« Er stand auf, als wolle er gehen.
»Haben Sie je von dem Lotusbuch gehört?« fragte Shan. Tan blieb an der Tür stehen. »Das ist ein Buch der Buddhisten.«
»Den Luxus religiöser Studien kann ich mir leider nicht erlauben«, erwiderte Tan ungeduldig.
»Es handelt sich eher um ein Verzeichnis«, sagte Shan. »Die Aufzeichnungen haben vor ungefähr zwanzig Jahren begonnen. Ein Namensverzeichnis. Mit Orten und...«, er suchte nach einem passenden Begriff, »... Ereignissen.«
»Ereignissen?«
»In einem Abschnitt werden fast ausschließlich Han-Chinesen aufgeführt. Zu jedem Namen gibt es eine Beschreibung. Von seiner oder ihrer Rolle bei der Zerstörung eines Klosters, Von der Teilnahme an Exekutionen. Oder an der Plünderung von Schreinen. Vergewaltigungen. Morde. Folter. Die Schilderungen sind sehr anschaulich. Das Buch wird weitergereicht, um neue Einträge ergänzt und aktualisiert. Es gilt inzwischen als eine Art Auszeichnung, zu der Liste der Autoren zu gehören.«
Tan war erstarrt. »Unmöglich!« rief er wütend. »Das wäre ein Akt gegen den Staat. Verrat.«
»Ankläger Jao stand auch in dem Buch. Unter seiner Leitung wurden die fünf größten gompas im Bezirk Lhadrung zerstört. Dreihundertzwanzig Mönche sind verschwunden. Weitere zweihundert wurden in Gefängnisse abtransportiert.«
Tan ließ sich auf einen Stuhl gleiten. Er war auf einmal wieder ganz bei der Sache. »Aber das wäre der Beweis. Der Beweis, daß die Radikalen es auf Jao abgesehen hatten.«
»Lin Ziang vom Büro für Religiöse Angelegenheiten wurde ebenfalls erwähnt«, fuhr Shan fort. »Auf seinen Befehl wurden fünfundzwanzig Klöster und Chorten in Westtibet zerstört. Er hat Antiquitäten im Wert von geschätzten zehn Millionen Dollar nach Peking schaffen lassen, wo sie eingeschmolzen wurden, um das Gold abzuschöpfen. Von ihm stammte die Idee, Nonnen in die Kasernen zu schaffen, damit die Soldaten sich mit ihnen vergnügen konnten. Xong De vom Ministerium für Geologie stand auch drin. Als er jünger war, hat er ein Gefängnis geleitet. Er hatte eine Vorliebe für Daumen.«
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