»Hier, mein Freund«, sagte Lokesh aufgeregt und schlug die ersten Seiten des Buches auf. »Es war so wundervoll, jene Tage miterleben zu dürfen. Ich habe diese Seiten bestimmt fünfzigmal gelesen, und ich weine immer noch manchmal vor Freude über die Erinnerungen, die darin bewahrt werden.«
Die Seiten glichen sich nicht alle. Manche waren Listen, andere sahen wie Einträge in einer Enzyklopädie aus. Die allererste Zeile des Buches enthielt ein Datum. 1949, das Jahr bevor die Kommunisten damit anfingen, Tibet zu befreien.
»Es ist ein Verzeichnis dessen, was hiergewesen ist, bevor die Zerstörungen begonnen haben«, sagte Shan voller Ehrfurcht. Es war nicht nur eine Liste der Klöster und anderer heiliger Stätten, es enthielt auch Angaben über die Anzahl und die Namen der Mönche und Nonnen und sogar die Abmessungen der Gebäude. Für viele der Orte hatte man die Beschreibungen der Überlebenden aus erster Hand festgehalten, die das jeweilige Leben dort schilderten. Lokesh hatte geschrieben, als Shan den Raum betrat.
»Ja, die erste Hälfte«, sagte die Nonne und schlug dann eine Seite auf, die durch ein seidenes Lesezeichen markiert wurde. Hier begann eine andere Aufzählung.
Es war eine Liste von Leuten, eine Aneinanderreihung einzelner Namen. Shans Kehle schnürte sich zusammen, während er las. »Das sind alles chinesische Namen.«
»Ja«, flüsterte Lokesh, der plötzlich viel sachlicher klang. »Chinesen.« Dann sackten seine Arme herunter, und er verstummte, als habe er plötzlich sämtliche Kraft verloren.
Die Nonne beugte sich über das Buch und blätterte weiter nach hinten, wo die bislang neuesten Eintragungen vorgenommen worden waren. Nacheinander wies sie auf mehrere Namen, während Shan ihr voller Entsetzen ungläubig zusah. Lin Ziang war darunter, der ermordete Direktor für Religiöse Angelegenheiten, ebenso Xong De, der verstorbene Direktor der Minen, und Jin San, der frühere Leiter des Landwirtschaftskollektivs der Langen Mauer. Allesamt Opfer der Fünf von Lhadrung.
Vierzig Minuten später brachte man ihn im Rollstuhl zurück.
Sie hatten ihm die Augen verbunden, schoben ihn erst knirschend durch Gänge, die aus dem Fels gehauen waren, und dann auf die glatten Flure der Klinik, wobei sie so oft abbogen, daß er den Weg unmöglich hätte zurückverfolgen können. Plötzlich hörte er wieder die Glöckchen, und dann wurde ihm der Schal abgenommen, der als Augenbinde gedient hatte. Er stand wieder im vorderen Korridor. Sonst war niemand zu sehen.
Yeshe war noch immer am Telefon und führte eine heftige Diskussion. Als er Shan sah, legte er auf. »Ich habe alles mögliche ausprobiert. Nichts scheint zu passen.« Er gab Shan den Zettel zurück. »Ich habe noch ein paar andere Möglichkeiten danebengeschrieben. Seitenzahlen, Koordinaten, Prüfziffern, Artikelnummern. Dann bin ich auf die Idee gekommen, wegen seiner Reisepläne nachzuhaken. Es gibt in Lhasa ein spezielles Reisebüro für Regierungsbeamte. Ich habe dort angerufen, um mir die Angaben über seine Reise bestätigen zu lassen.«
»Und?«
»Er wollte nach Dalian, das stimmt, mit einem Tag Aufenthalt in Peking auf der Hinreise. Aber darüber hinaus hatte man für Peking keinerlei Vorkehrungen getroffen. So war zum Beispiel kein Wagen des Justizministeriums angefordert worden, um ihn abzuholen.«
Shan nickte langsam und anerkennend.
»Da Sie noch nicht wieder hier waren, habe ich mich dann ein paar anderen Dingen gewidmet. Zuerst habe ich diese Frau im Büro für Religiöse Angelegenheiten angerufen, Miss Taring. Sie hat gesagt, sie würde das Bestandsverzeichnis der Artefakte persönlich überprüfen, und ich solle später noch mal anrufen. Das habe ich dann auch gemacht, und da hat sie mir mitgeteilt, daß eine bestimmte Liste fehlt.«
»Eine Liste aus dem Verzeichnis?«
Yeshe nickte bedeutungsvoll. »Von einer Bestandsaufnahme im Kloster Saskya vor vierzehn Monaten. Die Transportdokumente besagen, daß man alles nach Lhasa ins Museum geschickt hat. Aber in Miss Tarings Unterlagen fand sich keinerlei Hinweis darauf, was im einzelnen entdeckt wurde. Da hat es wohl eine Panne im System gegeben.«
»Na, ich weiß nicht recht.«
Yeshe schien darüber nachzugrübeln, was er von Shans Reaktion zu halten hatte, und fuhr dann fort. »Und ich habe in diesem Shanghaier Büro angerufen.«
»Die amerikanische Firma?«
»Genau. Ankläger Jao war den Leuten dort kein Begriff, aber als ich Lhadrung erwähnte, hat man sich an eine Anfrage der hiesigen Klinik erinnert. Man sagte mir, es habe einen entsprechenden Schriftverkehr gegeben.«
»Und?«
»Auf einmal Rauschen und Knacken, und dann war die Leitung tot.« Yeshe hielt inne und zog ein Blatt Papier unter seinem Block hervor. »Also bin ich ins Büro der Krankenhausverwaltung gegangen und habe gesagt, ich müsse die Akten der letzten paar Monate überprüfen. Ich habe das hier gefunden; es ist sechs Wochen alt.« Er reichte Shan das Blatt.
Es war ein Brief von Dr. Sung an das Büro in Shanghai. Sie fragte an, ob die Firma ihr ein tragbares Röntgengerät zur Ansicht überlassen würde. Sie wollte den Apparat nach dreißig Tagen zurückgeben, falls er sich als nicht geeignet für die hiesigen Anforderungen erweisen sollte.
Shan faltete den Brief zusammen und legte ihn in seinen Notizblock. Dann machte er sich auf den Weg zum Ausgang. Nach wenigen Schritten fing er an zu laufen.
Madame Ko führte sie in ein Restaurant neben dem Gebäude der Bezirksverwaltung. »Sie warten am besten«, sagte sie und wies auf einen freien Tisch im hinteren Bereich des Raums. Die Tür neben dem Tisch wurde von einem Kellner bewacht, der mit verschränkten Armen ein Tablett vor der Brust hielt.
Sergeant Feng bestellte Nudeln, und Yeshe entschied sich für Kohlsuppe. Shan nippte ungeduldig an seinem Tee, stand nach zehn Minuten auf und ging zur Tür hinaus. Madame Ko stellte sich ihm in den Weg und hielt ihn zurück. »Keine Störungen«, tadelte sie ihn und sah dann, wie entschlossen er war. »Lassen Sie mich einen Versuch unternehmen«, seufzte sie und verschwand vorsichtig hinter der Tür. Kurz darauf kam ein halbes Dutzend Armeeoffiziere aus Tans Büro, und Madame Ko bat ihn hinein.
Der Raum stank nach Zigaretten, Zwiebeln und gebratenem Fleisch. Tan saß allein an einem runden Tisch und rauchte, während das Personal das Geschirr abräumte. »Na, wunderbar«, sagte er und stieß den Rauch durch die Nasenlöcher aus. »Weißt du, wie ich den Vormittag verbracht habe? Die Öffentliche Sicherheit hat mir eine Standpauke gehalten. Man wird vielleicht beschließen, eine Zerrüttung der zivilen Ordnung zu melden. Man wirft mir vor, ich hätte mich widerrechtlich in die Ermittlungen eingeschaltet. Man hat festgestellt, daß sich im Lager Jadefrühling während der letzten fünfzehn Jahre zwei Sicherheitsverstöße ereignet haben, und zwar alle beide in dieser Woche. Man behauptet, einer meiner Zellenblöcke habe sich in ein verdammtes gompa verwandelt. Man hat sogar angedeutet, es bestehe ein Spionageverdacht. Was weißt du darüber?« Er zog wieder an der Zigarette, atmete langsam aus und musterte Shan durch die Rauchwolke hindurch. »Sie haben außerdem gesagt, ihre Einheiten bei der 404ten würden morgen mit den durchgreifenden Maßnahmen beginnen.«
Shan versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie erschrocken er war. »Ankläger Jao wurde von jemandem ermordet, den er kannte«, verkündete er. »Einem Kollegen.
Einem Freund.«
Tan zündete sich eine neue Zigarette am Stummel der ersten an und ließ Shan dabei nicht aus den Augen. »Du hast endlich einen Beweis?«
»An jenem Abend ist ein Bote mit einem Zettel gekommen.« Shan erläuterte, was im Restaurant geschehen war, ohne die Identität des Boten zu enthüllen. Tan würde niemals dem Wort eines purba glauben, wenn die Aussage eines Soldaten dagegenstand.
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