Sergeant Feng nahm das Blatt regungslos entgegen. Offenbar war er sich nicht sicher, wie er auf diese Bitte Shans reagieren sollte.
»Sie wissen, wen Sie fragen müssen. Mir würde man das nie verraten, selbst wenn ich den Versuch unternähme. Bitte, Genosse Sergeant.«
Feng warf den Zettel auf das Armaturenbrett und riß die Verpackung eines Schokoriegels auf. Sein Desinteresse schien Shan zu verspotten.
Shan und Yeshe wurden mit einer knappen Entschuldigung in ein leeres Büro im ersten Stock geführt. Dann bot man ihnen den obligatorischen Tee an. Shan schlenderte in dem Zimmer umher. In einem Ablagekorb auf dem Schreibtisch befand sich ein Stapel Zeitschriften, deren oberste China bei der Arbeit war, ein Parteiorgan, in dem Hochglanzbilder des Proletariats veröffentlicht wurden. Auf dem Beistelltisch lag ein einzelnes Buch, dessen Titel Arbeiterhelden der sozialistischen Teppichfabriken lautete. Shan hob die Zeitschriften an. Unten im Stapel lagen einige amerikanische Nachrichtenmagazine, das jüngste mehr als ein Jahr alt.
Sie waren allein. »Haben Sie entschieden, was Sie tun werden?« fragte Shan. »Hinsichtlich der purbas.« Und der Amerikaner, hätte er beinahe hinzugefügt.
Yeshe schaute nervös zur Tür. Er zog die schmalen Schultern zusammen, und sein Gesicht verzog sich, als würde er gleich anfangen zu weinen. »Ich bin kein Informant. Aber manchmal stellt man mir Fragen. Was kann ich tun? Für Sie ist es einfach. Ich muß an meine Freiheit denken. Mein Leben. Meine Pläne.«
»Verstehen Sie denn nicht, was der Gefängnisdirektor Ihnen angetan hat?« fragte Shan. »Sie müssen hier raus.«
»Was hat er denn schon getan? Er hilft mir. Er ist vielleicht der einzige Freund, den ich habe.«
»Ich werde den Oberst um einen neuen Assistenten bitten. Sie müssen hier raus.«
»Was hat Zhong getan?« hakte Yeshe nach.
»Sie mißverstehen die Justizorgane. Daß man Ihnen, einem Tibeter, sofort nach der Umerziehung in einem Arbeitslager eine Anstellung in Chengdu anbietet, wäre nicht nur sehr ungewöhnlich, sondern für Zhong absolut unmöglich zu bewerkstelligen. Die Öffentliche Sicherheit in Chengdu müßte zustimmen, nachdem sie zuvor ein offizielles Gesuch der Öffentlichen Sicherheit in Lhasa erhalten hat. Der neue Arbeitgeber müßte einverstanden sein, ohne Sie zu kennen, was niemals geschehen würde. Man müßte Reisepapiere auf den Namen Ihrer neuen Arbeitseinheit ausstellen, die gar nicht existiert. Zhong hat keine Papiere für Sie. Solche Dinge unterstehen nicht seiner Amtsgewalt. Er hat Sie belogen, damit Sie weiterhin mit ihm reden und ihm von mir berichten. Wenn dann alles vorbei ist und man beschließt, daß ich erneut das Volk enttäuscht habe, weil ich Sungpo nicht verdammen wollte, wird er Sie beschuldigen, sich mit mir verschworen zu haben, und Sie wieder einsperren. Zur Verhängung einer Haftstrafe von weniger als einem Jahr ist lediglich die Unterschrift eines örtlichen Beamten der Öffentlichen Sicherheit nötig. Und schon hat Zhong seinen geschätzten Gehilfen wieder bei sich.«
»Aber er hat es mir versprochen.« Yeshe rang verzweifelt die Hände. »Ich weiß nicht, wohin. Ich habe kein Geld, kein Empfehlungsschreiben, keine Reisepapiere. Es gibt keinen Ort, an den ich gehen könnte. Die einzige wirkliche Anstellung, die ich bekommen könnte, ist ein Job bei der chemischen Fabrik in Lhasa. Dort heuert man gern Tibeter an, sogar ohne Papiere. Ich habe die Arbeiter gesehen. Nach ein paar Monaten fallen ihnen die Haare aus. Bis man vierzig ist, hat man kaum noch Zähne im Mund.« Er blickte auf. Statt der Verbitterung, die Shan erwartet hatte, war ihm ein Anflug von Dankbarkeit anzumerken. »Selbst wenn Sie recht haben, was könnte ich schon tun? Und Sie stecken in der gleichen Klemme, nur schlimmer.«
»Ich habe nichts zu verlieren. Ich bin ein lao gai-Gefangener mit unbestimmter Haftstrafe«, sagte Shan und versuchte, möglichst desinteressiert zu klingen, während er ans Fenster trat. »In meinem Fall steckt vielleicht eine Absicht dahinter. Aber Sie haben lediglich Pech gehabt. Vielleicht sollten Sie krank werden.«
Der Wind drückte gegen die Scheiben, und die Lichter flackerten. Die Häftlinge der 404ten zuckten stets zusammen, sobald derartiges Wetter aufzog. Es klang zu sehr nach Maschinengewehrfeuer, wenn der Hagel auf die Blechdächer ihrer Hütten prasselte.
»Falls man mich fragt, habe ich die purbas nie gesehen«, sagte Yeshe. »Aber das ist es nicht allein. Falls man herausfindet, daß die purbas Sungpo helfen, wird man das als Beweis dafür werten, daß die Radikalen hinter dem Mord stecken und Sungpo einer von ihnen ist.« Seine Stimme verklang. Unter ihnen hatte eine alte Limousine mit roter Standarte gehalten, die zweifellos schon vor vielen Jahren in einer der Städte im Osten ausgemustert worden war. Ein Mann mit einem ramponierten Regenschirm lief vom Haus zum Auto, um den Fahrgast aus dem Fond des Wagens abzuholen.
Zwei Minuten später betrat der Direktor des Büros für Religiöse Angelegenheiten das Zimmer. Er war einige Jahre jünger als Shan und trug einen abgenutzten blauen Anzug und eine rote Krawatte, die ihm das Aussehen eines gewissenhaften Bürokraten verliehen. Sein Haar war militärisch kurz geschnitten. Am Handgelenk trug er eine Uhr, auf deren lackiertem Zifferblatt die chinesische Flagge abgebildet war. Solche Uhren wurden zumeist verdienten Parteimitgliedern verliehen.
»Genosse Shan!« begrüßte der Mann ihn lautstark. »Ich bin Direktor Wen.« Er wandte sich Yeshe zu. »Tashi delay«, sagte er unbeholfen.
»Ich spreche Mandarin«, erwiderte Yeshe mit deutlichem Unbehagen.
»Wunderbar! Genau darum geht es beim neuen Sozialismus. Ich habe letzten Monat in Lhasa eine diesbezügliche Rede gehalten. Wir dürfen uns nicht auf unsere Unterschiede konzentrieren, habe ich gesagt, sondern auf die Brücken zwischen uns.«. Er klang aufrichtig. Seufzend sprach er wieder Shan an. »Deshalb ist es auch so tragisch, wenn die gesellschaftsfeindlichen Bestrebungen kulturelle Dimensionen annehmen. Es treibt einen Keil zwischen die Leute.«
Shan entgegnete nichts darauf.
»Oberst Tans Büro hat wegen der Ermittlungen angerufen.« Er hielt verlegen inne. »Man hat um meine uneingeschränkte Mitarbeit gebeten. Selbstverständlich hätte man mich gar nicht erst darum bitten müssen.«
»Sie sind für alle Klöster im Bezirk Lhadrung zuständig«, sagte Shan, nachdem man ihnen Tee gebracht hatte.
»Die Klöster müssen ihre Lizenzen allesamt bei meiner Behörde beantragen.«
»Und auch jeder Mönch.«
»Und jeder Mönch«, bestätigte Direktor Wen und sah Yeshe an.
»Eine große Verantwortung«, stellte Shan fest.
Yeshe schaute stumm zu Boden. Er schien außerstande zu sein, Wen anzusehen. Langsam und ungelenk, als bereite es ihm Schmerzen, holte er seinen Notizblock hervor und fing an, das Gespräch zu protokollieren.
»Siebzehn gompas. Dreihunderteinundneunzig Mönche. Und eine lange Warteliste.«
»Und die Bestandslisten der gompas!«
»Wir haben ein paar. Das Antragsverfahren ist recht langwierig. Unter anderem wird auch eine umfassende Übersicht verlangt.«
»Ich meine die alten gompas.«
»Alt?«
Shan sah Wen an, ohne zu blinzeln. »Ich kenne Mönche, die hier vor Jahrzehnten gelebt haben. 1940 gab es in diesem Bezirk einundneunzig gompas und Tausende von Mönchen.«
Wen winkte ab. »Das war lange vor meiner Geburt. Vor der Befreiung. Als die Kirche noch als Instrument zur Unterdrückung des Proletariats benutzt wurde.«
Yeshe starrte unverwandt auf seinen Notizblock. Diese Reaktion hatte nichts damit zu tun, daß Shan ihm zuvor Zhongs wahre Absichten erläutert hatte. Nein, es lag an Wen. Und Yeshes Verhalten zeugte auch nicht von Schmerz, erkannte Shan. Es war Angst. Weshalb war er wegen des Direktors für Religiöse Angelegenheiten dermaßen beunruhigt? »Damals«, sagte Shan, »gab es in manchen der großen gompas an Festtagen besondere Tanzzeremonien.«
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