Iwan Turgenew - König Lear der Steppe

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lvan S. Turgenev

König Lear der Steppe

Wir waren an einem Winterabend bei einem alten Universitätsfreunde versammelt. Das Gespräch kam auf Shakespeare. Es war ein hoher Genuß für uns, seine so tiefen wie wahren Gestaltungen, die gleichsam ans dem Innersten des menschlichen Wesens herausgebildet sind, wieder einmal vor uns vorüberziehen zu lassen. Wir bewunderten ihre ewige Frische, ihre Lebenswärme. Jeder von uns erinnerte sich, einem Doppelgänger Hamlets oder Othellos oder einem echten Fallstaff schon irgendwo begegnet zu sein, ja Einige von uns wollten in ihren Erlebnissen sogar Möglichkeiten von Richard dem Dritten und selbst Macbeth’s entdeckt haben.

»Und ich, meine Herren,« rief unser Wirth, ein schon älterer Mann, »ich kannte einen König Lear.«

»Wie?« riefen wir etwas überrascht.

»Ja der That, meine Herren; wollen Sie, daß ich Ihnen von ihm erzähle?«

»Machen Sie uns dies Vergnügen,« riefen wir, und unser Freund ließ sich nicht weiter bitten.

I

Meine ganze Kindheit, fing er an, und meine erste Jugend bis zum fünfzehnten Jahre brachte ich auf dem Lande, auf dem Gute meiner Mutter zu einer reichen Gutsbesitzerin des Gouvernements . . . Wohl als der lebendigste Eindruck dieser schon entfernten Zeit blieb in meiner Erinnerung die Figur unseres nächsten Nachbars; eines gewissen Martin Petrowitsch Charloff. Dieser Eindruck könnte auch nur l schwer verwischt werden; in meinem ganzen Leben bin ich seitdem etwas Charloff Aehnlichem nicht wieder begegnet. Stellen Sie sich einen Menschen von riesigem Wachse vor. Auf seinem Rumpfe sitzt, ein wenig zur Seite, ohne Andeutung eines Halses, ein ungeheurer Kopf darauf erhebt sich, beinahe von den struppigen Augenbrauen beginnend, ein ganzes Bündel wirrer, gelbgrauer Haare. Die Farbe des Gesichts spielte in’s Aschgraue, die Gesichtshaut schien abgeschunden zu ein. Aus der Mitte desselben ragte, wie eine Beule, eine dicke Nase hervor, blitzten selbstbewußt die blauen kleinen Augen, und öffnete sich der ebenfalls kleine, aber schiefe Mund, gleicher Farbe mit dem Gesichte und mit geborstenen Lippen. Die Stimme, welche diesem Munde entstieg, war zwar ein wenig rauh, dafür aber auch desto kräftiger und lauter . . . Ihr Klang erinnerte an das Klirren von Eisenstangen, die auf schlechtem Pflaster gefahren werden. Charloff’s gewöhnliche Art zu sprechen war daher, als ob er bei starkem Wind über ein breites Thal hin Jemand etwas zuzurufen hätte. Es fiel schwer, den Ausdruck dieses Gesichts zu bestimmen, bei seinen Dimensionen war es mit einem Blicke gar nicht zu umfassen. Abstoßend war er jedoch nicht. Bei allem Sonderbaren und Ungewöhnlichen lag in ihm etwas Imposantes. Was er für Hände hatte, wahre Kissen, und was für Finger, was für Füße! Ich erinnere mich, daß ich ohne respectvolle Angst weder auf seinen drei Ellen breiten Rücken noch aus seine Schulterblätter blicken konnte, die zwei Mühlsteinen glichen. Aber besonders staunte ich über seine Ohren. Sie sahen ganz Bretzeln ähnlich, mit denselben Krümmungen und Biegungen. Von diesen Ohren waren die Wangen ’an beiden Seiten förmlich in die Höhe gepreßt. Martin Petrowitsch trug Winter und Sommer dieselbe Casaquine aus grünem Tuch, um dieselbe einen Tscherkessengürtel geschnallt und bäuerische Stiefel. Ein Halstuch habe ich nie bei ihm gesehen; um was hatte er es auch binden sollen? Er athmete langsam und schwer wie ein Stier, aber bewegte sich ohne Geräusch. Trat er in ein Zimmer, so hätte man glauben mögen, er fürchte, Alles zu zerschlagen und umzustoßen. Er wechselte nur vorsichtig den Platz, meistens sich zur Seite bewegend und gleichsam schleichend. Er besaß eine wirklich herkulische Kraft und genoß in Folge dessen eine große Achtung im ganzen Umkreise: unser Volk liebt es, vor Riesen sich stets zu beugen. Ganze Legenden hatten sich über ihn gebildet: man erzählte, daß, als er einst allein einem Bären begegnete, er denselben niedergerungen, daß, als er in seinem Bienengarten einen Dieb aus einem anderen Dorfe getroffen, er ihn sammt Pferd und Wagen über den Zaun geschleudert habe, und Aehnliches.

Charloff selbst prahlte nie mit seiner Kraft. »Wenn ich eine gebenedeite Rechte habe, so war es Gottes Wille!« sagte er. Er war stolz, aber nicht auf seine Kraft, sondern auf seinen Stand, seine Herkunft, seinen Verstand und seine Menschenkenntniß.

»Unser Geschlecht kommt von »Wscheden« her, (so sprach er das Wort Schweden aus); vom Wscheden Charlus stammt es ab,« versicherte er. »Dieser kam während der Regierung des Iwan Wassiliewitsch des Dunklen (in der Zeit war es also!) nach Rußland, und dieser Wschede Charlus wollte kein finnischer Graf, sondern ein russischer Edelmann sein und hat sich in das goldene Buch eingezeichnet. Davon stammen wir, die Charloff’s, ab!«

»Aber Martin Petrowitsch,« versuchte ich ihm zu erwidern, »einen Iwan Wassiliewitsch den Dunklen hat es ja gar nicht gegeben; wir hatten nur einen Iwan Wassiliewitsch den Schrecklichen. Der Dunkle wurde aber der Großfürst Wassilij Wassiliewitsch genannt.«

»Lüge nur zu!« antwortete mir Charloff, »wenn ich es sage, so ist es wahr!«

Einst fiel es meiner Mutter ein, ihn wegen seiner wirklich merkwürdigen Uneigennützigkeit in’s Gesicht zu loben.

»Sie haben, Natalia Nikolaewna!« rief er beinahe ärgerlich, »auch was Gescheidtes gefunden, mich zu loben! Wir Edelleute können nicht anders, damit nicht ein Bauer, ein unterthäniger Mensch über uns etwas Schlechtes zu denken wage! Ich – Charloff, führe meine Familie von da her – (hier zeigte er mit dem Finger ganz hoch über sich auf die Decke) und ich soll keine Ehre besitzen?! Wie wäre denn das möglich?« Ein anderes Mal fiel es einem bei meiner Mutter zu Gaste weilenden hohen Beamten ein, sich über Martin Petrowitsch lustig zu machen. Dieser erzählte wieder vom »Wscheden« Charlus, der nach Rußland gekommen war . . .

»Unter dem Bohnen-König!« unterbrach der Beamte.

»Nein, nicht unter dem BohnenKönig, sondern unter dem Großfürsten Iwan Wassiliewitsch dem Dunklen.«

»Und ich meine,« fuhr die hohe Persönlichkeit« fort, »daß Ihr Geschlecht noch älter sei, und selbst in die Zeit vor der Sündfluth reicht, als es noch Mastodonten und Megaloterien gab.«

Diese gelehrten Bezeichnungen waren Martin«Petrowitsch fremd, aber er bemerkte doch, daß der hohe Beamte über ihn herziehe.

»Das kann sein!« rief er, »unser Geschlecht ist wirklich sehr alt. Als mein Großahn nach Moskau kam, da lebte dort, wie man erzählt, ein Narr, der Eurer Excellenz in nichts nachgab, und solche Narren werden nur einmal in tausend Jahren geboren!«

Die hohe Persönlichkeit wurde wüthend, Charloff, aber warf den Kopf zurück, bewegte sein Kinn nach vorne, lachte auf und entfernte sich eiligst. Zwei Tage darauf erschien er wieder. Meine Mutter machte ihm Vorwürfe.

»Es war eine Lection für ihn,« unterbrach Charloff, »dränge dich nicht blindlings heran, frage erst, mit wem du zu thun hast. Er ist noch zu jung, man muß ihn noch belehren!« Der Beamte war gleichen Alters mit Charloff; diesem Riesen galten aber alle Anderen für noch nicht ausgewachsen. Er rechnete zu viel auf sich selbst und hatte entschieden vor Niemandem Angst. »Kann man denn mir etwas anhaben? Wo wird sich auf der Welt ein Mensch dazu finden?« pflegte er zu fragen und ließ dann plötzlich ein kurzes, aber betäubendes Lachen erschallen.

II

Meine Mutter war sehr wählerisch in ihrem Umgange, aber Charloff empfing sie mit besonderer Freundlichkeit und sah ihm Vieles nach; er hatte ihr nämlich vor etwa fünf und zwanzig Jahren das Leben gerettet, indem er ihren Wagen am Rande eines tiefen Abgrundes aufhielt, in den die Pferde bereits gestürzt waren. Die Strang und Geschirrriemen waren gerissen, aber Martin Petrowitsch hatte das ergriffene Rad nicht aus den Händen gelassen, obwohl das Blut ihm aus den Nägeln spritzte. Durch meine Mutter war er auch verheiratet worden, und zwar mit einer siebzehnjährigen Waise, die sie in ihrem Hause erzogen hatte; er selbst war damals ein Vierziger. Die Frau des Martin Petrowitsch war kränklich und zart; man sagte, er habe sie auf seiner Handfläche in sein Haus getragen; auch dauerte ihre Ehe nicht lange. Doch hinterließ sie ihm zwei Töchter. Auch nach dem Tode der Gattin des Martin Petrowitsch erwies meine Mutter dem Letzteren allerlei Gefälligkeiten, sie sorgte, daß seine älteste Tochter in das Gouvernements Pensionat aufgenommen wurde, wählte späterhin einen Gatten für dieselbe, und hatte bereits für die zweite gleichfalls einen solchen in Aussicht genommen.

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