Iwan Turgenew - Sonderlinge
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lvan S. Turgenev
Sonderlinge
I.
Telegin
Etwa vierzig Werst von unserm Gute lebte – es sind jetzt viele Jahre seitdem verflossen – auf seinem Erbsitz Suchodol ein entfernter Verwandter meiner Mutter, ein ehemaliger Gardesergeant und ziemlich reicher Gutsbesitzer, namens Alexis Sergeïtsch Telegin.
Nie fuhr er aus, und so ließ er sich auch bei uns niemals sehen. Aber zweimal jährlich wurde ich zu ihm geschickt, um ihm meinen Besuch zu machen, in der ersten Zeit in Begleitung meines Hauslehrers, später jedoch allein. Er empfing mich immer sehr herzlich, und in der Regel brachte ich drei oder gar vier Tage in seinem Hause zu.
Ich habe ihn nur als alten Mann gekannt: bei meinem ersten Besuch zählte ich, wenn ich mich recht erinnere, zwölf und er volle siebzig Jahre. Er war im letzten Jahre der Regierung der Kaiserin Elisabeth geboren.
Er lebte ganz allein mit seiner Frau Melanie Pawlowna, die zehn Jahre jünger war als er. Aus ihrer Ehe waren zwei Töchter hervorgegangen. Aber sie waren schon lange verheiratet und kamen nur selten nach Tuchodol zu Besuch; zwischen ihnen und ihren Eltern war, wie man zu sagen pflegt, »die schwarze Katze hindurch gelaufen«, und Telegin erwähnte ihrer fast niemals.
Es ist mir, als sah' ich's noch heute, dieses alte Haus, diesen ächten Landsitz eines Steppenedelmanns. Es bestand nur aus einem Stock, hatte einen ungeheuren Turm, und war zu Beginn unseres Jahrhunderts aus jenen wunderbar dicken Fichtenstämmen erbaut, die man aus den Wäldern von Schisdra holte – Wälder, von denen jetzt auch nicht eine Spur mehr vorhanden ist. Das Haus war sehr geräumig und enthielt eine große Menge Zimmer, die freilich weder sehr hoch noch sehr hell waren: der Wärme wegen hatte man die Mauern nur mit ganz kleinen Fensteröffnungen versehen. Nach der Gewohnheit jener Zeit standen die Hütten der im Hofdienst verwendeten Leibeigenen rings um das Herrenhaus, zu welchem ein Garten von zwar geringer Ausdehnung, aber voll schöner Obstbäume gehörte, welche durchsichtige Aepfel und kernlose Birnen gewährten.
Zehn Werst im Umkreise dehnte sich die gleichförmige Steppe ans mit ihrem fruchtbaren schwarzen Boden, aus welchem kein einziger hoher Gegenstand das Auge fesselte: nirgend ein Kirchturm oder auch nur ein Baum; kaum daß da und dort in der Ferne sich eine Windmühle mit durchlöcherten Flügeln erhob – das war Suchodol!
Sämtliche Zimmer des Hauses waren mit gewöhnlichen, auf dem Laude angefertigten Möbeln angefüllt. Vor dem Saal, in der Nähe des Fensters bemerkte man einen ziemlich seltsamen Gegenstand – einen Werstpfahl mit folgender Inschrift:
»Gehst du achtundsechzig Mal um diesen Saal, so hast du eine Werst zurückgelegt: gehst du siebenundachtzig Mal von dem entferntesten Winkel des Wohnzimmers nach der rechten Ecke des Billards, so hast du eine Werst zurückgelegt« u. s. w.
Was einem jedoch am meisten auffiel, wenn man das Haus zum erstenmale betrat, das war die erstaunliche Menge Gemälde, welche an den Wänden hingen: zum größten Teil Werke von sogenannten italienischen Meistern – Landschaften, mythologische oder religiöse Sujets.
Aber da all diese Gemälde stark verräuchert, ja sogar beschädigt waren, so fand das Auge nur hie und da auf einem unsichtbaren Rumpfe einen fleischfarbenen Flecken oder eine rote Draperie mit wehenden Falten, oder eine gleichsam in der Luft schwebende Brückenwölbung, oder einen zerzausten Baum mit blauen Blättern, oder eine gewaltige Nymphenbrust, welche dem Deckel einer Suppenschüssel glich, oder eine entzwei geschnittene Melone mit schwarzen Körnern, oder über einem Pferdekopfe einen befiederten Turban – oder endlich das riesige zimtfarbige Bein irgend eines Apostels mit dicker Wade und emporgestreckten Zehen.
An dem Ehrenplatze im Wohnzimmer hing das lebensgroße Bild der Kaiserin Katharina II. – eine Kopie des bekannten Gemäldes von Lampi —, für den Hausherrn der Gegenstand einer besonderen Verehrung, ja ich möchte sagen: einer wahren Anbetung.
An der Decke hingen in Bronze eingefaßte, ganz kleine und sehr bestaubte Kronleuchter aus Kristall. . . .
Telegin war ein stämmiger, rundlicher, kleiner Greis mit bleichem aufgedunsenem aber angenehmem Gesichte, dünnen Lippen und hohen Brauen, unter welchen sehr lebhafte kleine Augen blitzten. Er trug das bereits dünn gewordene Haar zurückgestrichen: hatte er doch erst im Jahr 1812 dem Puder entsagt. Sein unveränderliches Kostüm bestand aus einem grauen Ueberrock mit drei auf die Schultern fallenden Kragen, einer gestreiften Weste, faserig gewordenen Kniehosen und dunkelroten Saffianstiefeln mit herzförmigen Ausschnitten und Quasten oben am Schaft. Er trug ein Halstuch aus weißem Nessel, einen Busenstreif, Manschetten und in jeder Westentasche eine goldene »Zwiebel« (Taschenuhr) von englischem Fabrikate.
Gewöhnlich hatte er in der rechten Hand eine emaillierte, mit spanischem Tabake gefüllte Tabatiere, während die linke sich auf einen Stock stützte, dessen silberner Griff in Folge des langen Gebrauchs ganz glatt und glänzend geworden war.
Telegin hatte eine näselnde, kreischende Stimme. Beständig lächelte er freundlich-wohlwollend, aber doch ein wenig von oben herab und mit einem Anflug von Wichtigkeit. Da er die alten Gewohnheiten aus der Zeit Katharinas bewahrt hatte, so war er im höchsten Grade höflich und liebenswürdig, mit gemessenen, abgerundeten Gesten. Die Schwäche seiner Beine machte ihm das Gehen fast unmöglich; er konnte seinen Sessel nur verlassen, um sich mit kleinen eiligen Schritten zum nächsten Sessel zu begeben, auf welchen er sich plötzlich niedersetzte – oder vielmehr fiel – weich, wie ein Kissen.
Wie bereits erwähnt, fuhr Telegin niemals aus und verkehrte sehr wenig mit seinen Nachbarn, obgleich er Gesellschaft liebte – war ihm doch sogar ein gewisser Grad von Schwatzhaftigkeit eigen! Allerdings fehlte es ihm nie an Gesellschaft: unter seinem Dache hauste nämlich eine ziemlich große Anzahl armer Krautjunker, deren Wämser und Röcke oft aus seinem Kleiderschrank stammten, während das andre Ende des Hauses einer Abteilung armer Edelfrauen als Zufluchtsstätte diente. Niemals hatte Telegin weniger als fünfzehn Personen an seinem Tische . . . So gastfreundlich war er!
Unter all diesen Schmarotzern fielen mir zwei besonders auf: ein Zwerg mit dem Spitznamen »Janus« oder »Doppelgesicht«, von dänischer oder gar – wie gewisse Leute behaupteten – jüdischer Herkunft, und ein Narr, der Fürst L.
Ganz entgegen der Sitte jener Zeit wurde dieser Zwerg von der Herrschaft durchaus nicht als Gegenstand der Belustigung betrachtet; auch erinnerte nichts an ihm an den Spaßmacher; im Gegenteil: immer schweigsam und eine beleidigte und wilde Miene zur Schau tragend, runzelte er die Stirn und knirschte mit den Zähnen, sobald man nur eine Frage an ihn richtete. Auch wurde er von Telegin »der Philosoph« genannt; ja dieser hegte sogar eine gewisse Hochachtung für ihn: sobald bei Tische die Gäste und Besucher bedient worden, ward ihm immer zuerst die Schüssel gereicht.
»Gott hat ihn heimgesucht,« pflegte Telegin zu sagen; »das ist sein göttlicher Wille: aber mir, der niedrigen Kreatur, kommt es nicht zu, ihm wehe zu thun« . , .
Mich konnte Janus nicht ausstehen. Wenn ich ihm nur nahe kam, ward er gleich zornig und brummte mit heiserer Stimme: »lassen Sie mich in Ruhe, Sie Eindringling!«)
»Woran merken Sie, daß er ein Philosoph ist?« fragte ich Telegin eines Tages.
»Was, der kein Philosoph! Aber, kleines Bürschchen, sieh doch mir, wie er zu schweigen versteht!«
»Und warum nennt Ihr ihn Doppelgesicht'?«
»Aus folgendem Grunde, kleines Bürschchen: nach außen hin hat er nur ein Gesicht und danach beurteilt Ihr ihn, Ihr oberflächlichen Leute; aber er hat noch ein zweites, das wahre und dieses verbirgt er. Dieses kenn' nur ich allein, und darum lieb ich ihn . . . denn dieses Gesicht ist ein gutes Gesicht. Du zum Beispiel: Du siehst und siehst doch nichts . . . Aber ich – ohne daß er ein Wort mit mir spricht, weiß ich doch gleich, wenn er mich aus irgend einem Grunde tadelt: denn er ist sehr streng! Und er hat immer Recht! Das kannst du nicht begreifen, mein Junge; aber einem Greise wie mir glaube nur aufs Wort.«
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