Als er in den oberen Flur trat, fühlte Nestler zum ersten Mal in der Karriere, das was sein Vater einen guten Polizei Instinkt nennen würde. Er wusste sofort, dass hier etwas nicht stimmte. Er wusste, dass er etwas Schlimmes finden würde, etwas das er nicht erwartet hatte.
Er zog seine Waffe und fühlte sich ein wenig blöd, während er weiter den Flur hinunterging. Er kam an einem Badezimmer vorbei (wo er weiteren Urin des Hundes fand) und ein kleines Bürozimmer. Das Büro war ein wenig chaotisch, aber es gab keine Anzeichen einer Notlage oder Warnsignale.
Am Ende des Flurs stand eine dritte und letzte Tür offen und gab den Blick auf das Schlafzimmer frei.
Nestler hielt an der Tür an, sein Blut gefror in seinen Adern.
Er starrte volle fünf Sekunden hinein, bevor er eintrat.
Ein Mann und eine Frau – wahrscheinlich Herr und Frau Kurtz – lagen tot auf dem Bett. Er wusste, dass sie nicht schliefen, wegen der Menge an Blut auf den Laken, Wänden und dem Teppich.
Joey machte zwei weitere Schritte hinein und hielt dann an. Das war nichts für ihn. Er musste das melden, bevor er Weiteres unternahm. Außerdem konnte er, von da, wo er stand alles sehen, was nötig war. Herr Kurtz war in die Brust gestochen worden. Frau Kurtz war die Kehle von einem Ohr zum anderen durchgeschlitzt worden.
Joey hatte noch nie so viel Blut zuvor in seinem Leben gesehen. Ihm wurde schon fast schwindelig beim Ansehen.
Er zog sich aus dem Schlafzimmer zurück und dachte nicht mehr an seinen Vater oder seinen Opa, auch nicht mehr an den tollen Polizisten, der er eines Tages sein wollte.
Er stürmte hinaus, rannte zur Treppe und kämpfte gegen eine große Übelkeitswelle. Während er nach seinem Schulter Mikro an seiner Uniform suchte, sah er den Jack Russel, der aus dem Stadthaus rannte, aber er kümmerte sich nicht weiter darum.
Er und der kleine Hund standen vor dem Stadthaus, während Nestler Bericht erstattete. Der Hund bellte zum Himmel, als wenn das irgendetwas an den schrecklichen Dingen die im Haus geschehen waren, ändern würde.
Mackenzie White saß in ihrer Kabine und ließ ihren Zeigefinger entlang einer Visitenkarte gleiten. Es war die Visitenkarte, auf die sie sich seit mehreren Monaten fixierte, eine Karte, die irgendwie mit ihrer Vergangenheit verbunden war. Oder noch genauer mit dem Mord ihres Vaters.
Sie kam immer wieder darauf zurück, wann immer sie einen Fall abgeschlossen hatte und fragte sich, ob sie sich eine Auszeit von ihrem aktuellen Job als Agentin nehmen sollte, sodass sie nach Nebraska zurückkehren und sich den Tatort ihres Vaters mit neu erfrischten Augen anschauen konnte, die nicht von der FBI-Mentalität beeinflusst wurden.
Die Arbeit machte sie in letzter Zeit fertig und mit jedem Fall, den sie löste, wurde das Verlangen die geheimnisvollen Umstände des Todes ihres Vaters aufzuklären, stärker. Es wurde so stark, dass sie immer weniger ein Gefühl der Erfüllung fühlte, wenn sie einen Fall abschloss. Der neuste hatte zwei Männer beinhaltet, die einen Plan ausgeheckt hatten, um Kokain in eine Baltimore High School zu bringen. Der Auftrag hatte drei Tage gedauert und war so einfach gewesen, dass es sich fast nicht wie Arbeit angefühlt hatte.
Sie hatte ihren fairen Anteil an bemerkenswerten Fällen gehabt, seit sie nach Quantico gekommen war und wie ein Wirbelwind durch die Ränge geschoben worden war. Hinterzimmergeschäfte und Beinahunfälle gehabt hatte. Sie hatte einen Partner verloren, hatte es geschafft, jeden Vorgesetzten den sie hatte, zur Weißglut zu bringen und sie hatte sich einen Namen gemacht.
Das Einzige was sie nicht hatte, war ein Freund. Klar, es gab Ellington, aber zwischen ihnen herrschte eine befleckte Chemie, die eine Freundschaft schwierig machte. Und sie hatte ihn offiziell aufgeben. Er hatte sie zweimal abgewiesen – aus verschiedenen Gründen – und sie würde sich nicht noch einmal zum Idioten machen. Sie war okay mit ihrer Arbeitsbeziehung, das Einzige was sie noch zusammenhielt.
Über die letzten Wochen hatte sie auch ihren neuen Partner kennengelernt – einen ungeschickten, aber eifrigen Anfänger namens Lee Harrison. Er hatte eine Auswahl an Verwaltungsarbeit bekommen, viel Arbeit und Nachforschungen, aber er machte einen tollen Job. Sie wusste, dass Direktor McGrath ihn beobachtete, wie er mit so viel Arbeit umging. Und bis jetzt hatte er jeden überzeugt.
Sie dachte kaum an Harrison, als sie auf die Visitenkarte schaute. Sie hatte ihn mehrmals gebeten nach Firmen zu suchen, die Barker Antiquitäten hießen. Und obwohl er mehr Ergebnisse, als alle anderen in den letzten Monaten hervorgebracht hatte, waren alle Hinweise in einer Sackgasse geendet.
Während sie darüber nachdachte, hörte sie weiche Schritte, die sich ihrer Kabine näherten. Mackenzie ließ die Visitenkarte unter einen Stapel von Papieren gleiten, der neben ihrem Laptop lag, und tat so, als wenn sie ihre Mails überprüfte.
“Hey White”, sagte eine bekannte männliche Stimme.
Der Typ ist so gut, dass er praktisch hört, wenn ich an ihn denke, dachte sie. Sie wirbelte in ihrem Stuhl herum und schaute Lee Harrison an, der in ihre Kabine schaute.
“Nichts mit White”, sagte sie. “Ich bin Mackenzie. Mac, wenn du wirklich mutig bist.”
Er lächelte verlegen. Es war klar, dass Harrison noch nicht herausgefunden hatte, wie er sie ansprechen oder wie er sich in ihrer Gegenwart verhalten sollte. Und das war in Ordnung für sie. Sie fragte sich manchmal, ob McGrath ihn als ihren Teilzeit - Partner zugeteilt hatte, nur um ihn daran zu gewöhnen, sich nie sicher sein zu können, wo er mit seinen Kollegen stand. Wenn das so war, dachte sie war das ein genialer Schachtzug.
“Okay, dann … Mackenzie”, sagte er. “Ich wollte dir nur sagen, dass sie mit der Bearbeitung der Dealer von heute Morgen durch sind. Sie wollen wissen, ob du noch mehr Informationen von ihnen brauchst.
“Nein. Das ist in Ordnung”, sagte sie.
Harrison nickte, aber bevor er ging, runzelte er die Stirn. Sie begann bereits zu glauben, dass es eine Art Markenzeichen von ihm war. “Kann ich dich was fragen?”, fragte er.
“Natürlich.”
“Geht’s dir … naja gut, fühlst du dich gut? Du siehst wirklich müde aus. Vielleicht ein wenig erschöpft?”
Sie hätte ihn einfach necken können wegen so eines Kommentars und ihn ziemlich verlegen machen können, aber sie entschied sich dagegen. Er war ein guter Agent und sie wollte nicht die Art von Agentin sein (sie war schließlich selbst noch eine Anfängerin), die den neuen Mitarbeiter schikanierte. Also sagte sie stattdessen: “Ja, mir geht’s gut. Ich schlafe nur nicht viel in letzter Zeit.”
Harrison nickte. “Ich verstehe”, sagte er. “Naja … viel Glück beim Ausruhen. Dann machte er wieder dieses Markenzeichen, sein Runzeln und ging, wahrscheinlich, um damit weiter zumachen, was McGrath ihm als Nächstes aufgetragen hatte.
Abgelenkt von der Visitenkarte und den unzähligen ungelösten Geheimnissen, die sie umgaben, erlaubte Mackenzie sich, das vorerst hinter sich zu lassen. Sie schaute sich ihre Mails an und sortierte ein paar Papiere, die sich auf ihrem Tisch angesammelt hatten. Sie hatte noch nicht viele Gelegenheiten gehabt, diese weniger glamourösen Momente zu erleben, und dafür war sie dankbar.
Als ihr Handy mittendrin klingelte, griff sie beklommen danach. Alles, nur von diesem Tisch wegkommen.
“Hier ist Mackenzie White”, meldete sie sich.
“White, hier ist McGrath.”
Sie ließ ein kurzes Lächeln über ihr Gesicht gleiten. Obwohl McGrath nicht gerade ihre Lieblingsperson war, wusste sie, wann immer er anrief oder sogar vorbeikam, kam es normalerweise zu einer Art von Auftrag.
Es stellte sich heraus, dass er genau deswegen anrief. Mackenzie hatte nicht einmal Zeit Hallo zu sagen, bevor er in seiner gewöhnlich schnellen Art der Kommunikation weitersprach.
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