Mackenzie ging zu dem Mann, der ihr am nächsten war, derjenige, der die Werkzeugkiste durchsuchte. Er war wohl fast vierzig, mit langem, fettigem Haar, das auf seine Schultern fiel. Die Stoppeln auf seinem Gesicht konnte man nicht wirklich einen Bart nennen. Als er hochblickte und sie bemerkte, lächelte er breit.
“Hey, Süße”, sagte er mit einem kleinen südlichen Akzent. “Wie kann ich dir weiterhelfen?”
Mackenzie zog ihr Abzeichen. “Zuerst, hören Sie mal auf mich Süße zu nennen. Dann können Sie mir sagen, ob Sie Mike Nell sind.”
“Ja, das bin ich”, sagte er. Er starrte mit ein wenig Angst auf ihr Abzeichen. Er schaute dann wieder auf ihr Gesicht, als wenn er versuchte herauszufinden, ob das eine Art Scherz war.
“Herr Nell, ich würde gerne –“
Er wirbelte schnell herum und schubste sie. Hart. Sie taumelte zurück und ihr Fuß streifte einen Reifen, der auf dem Boden lag. Als sie das Gleichgewicht verlor und nach hinten fiel, sah sie noch, wie Nell weglief. Er verließ die Werkstatt, rannte und schaute über seine Schulter.
Das ist schnell eskaliert, dachte sie. Er ist garantiert schuldig wegen irgendwas.
Ihr Instinkt wollte nach der Waffe greifen. Aber das würde Aufsehen erregen. Also wollte sie aufstehen und hinterher rennen. Aber während sie sich hochdrückte, fiel ihre Hand auf etwas, das auf dem Boden liegen geblieben war. Es war ein Radkreuz – wahrscheinlich das, das von dem Rad abgenommen worden war, über das sie gefallen war.
Sie nahm es hoch und kam schnell auf ihre Füße. Sie rannte nach draußen vor die Werkstatt und sah Nell auf dem Bürgersteig, wo er gerade die Straße überquerte. Mackenzie schaute schnell nach rechts und links, sah, dass es keine Autos in der Nähe gab, und warf ihren Arm zurück.
Sie warf das Drehkreuz durch die Luft, mit so viel Kraft sie konnte. Es segelte viereinhalb Meter oder so, die sie und Nell trennten, und traf ihn direkt am Rücken. Er ließ einen Schrei der Überraschung und des Schmerzes los, bevor er nach vorne taumelte und auf die Knie fiel, fast landete er mit dem Gesicht auf der Straße.
Sie lief zu ihm, drückte ihm ein Knie in den Rücken, noch ehe er überhaupt daran denken konnte, wieder auf die Beine zu kommen.
Sie drückte seine Arme auf seinen Rücken und drückte sie nach unten. Er versuchte sich zu befreien, aber merkte dann, dass das nur noch mehr Schmerzen verursachte, da seine Schultern zurückgezogen waren. Mit einer Schnelligkeit, die sie seit Monaten übte, zog sie die Handschellen aus ihrem Gürtel und schlang sie um Nells Handgelenke.
“Das war dumm”, sagte Mackenzie. “Ich wollte nur ein paar Fragen stellen … und Sie haben mir schon die Antwort gegeben, nach der ich suche.”
Nell sagte nichts, aber er akzeptierte endlich, dass er ihr nicht entkommen konnte. Als die Autos vorbeigefahren waren, kam der andere Mann aus der Werkstatt herübergeeilt.
“Was zum Teufel ist hier los?”, fragte er.
“Herr Nell hat gerade eine FBI–Agentin angegriffen”, antwortete Mackenzie. “Es tut mir leid, er wird den Tag für Sie nicht beenden können.”
***
Mackenzie beobachtete Mike Nell hinter dem Doppelglas des Verhörraums. Er sah verärgert und peinlich berührt aus – ein finsterer Blick war auf seinem Gesicht geblieben, seitdem Mackenzie ihn auf die Beine gestellt hatte, in Handschellen vor seinem Arbeitgeber. Er kaute nervös an seiner Lippe, ein Zeichen, das er sich wahrscheinlich nach einer Zigarette oder einem Drink sehnte.
Mackenzie wandte sich von ihm ab, um die Akte in ihrer Hand zu lesen. Sie erzählte die kurze, aber facettenreiche Geschichte von Mike Nell, der mit sechzehn von Zuhause weggelaufen und mit achtzehn das erste Mal wegen unbedeutenden Diebstählen und schwerem Überfall festgenommen worden wurde. Die letzten zwölf Jahre seines Lebens zeigten das Porträt eines Störenfrieds – Überfälle, Einbrüche, Diebstahl, Eindringen, ein paar Ausflüge ins Gefängnis.
Neben Mackenzie sahen Dagney und Sheriff Rodriguez Nell mit etwas wie Verachtung an.
“Ich nehme an, Sie haben ihn oft in der Vergangenheit gesehen?”, fragte Mackenzie.
“Haben wir”, sagte Rodriguez. “Und irgendwie haut das Gericht ihm immer nur auf die Finger und das war’s. Die längste Strafe, die er abgesessen hat, war die, von der er gerade freigelassen wurde und das war ein Jahr Haftstrafe. Wenn sich herausstellt, dass dieser Arsch für diese Morde verantwortlich ist, dann werden die Gerichte den Schwanz einziehen.”
Mackenzie übergab den Bericht Dagney und ging zur Tür. “Naja, dann schauen wir mal, was er zu sagen hat”, sagte sie.
Sie ging aus dem Zimmer und stand einen Moment im Flur, ehe sie weiter ging, um Mike Nell zu verhören. Sie nahm ihr Handy heraus, um zu sehen, ob sie einen Text von Harrison erhalten hatte. Sie nahm an, er war jetzt am Flughafen, vielleicht hatte er bereits mit anderen Familienmitgliedern gesprochen, um herauszufinden, was zu Hause vor sich ging. … Es tat ihr ehrlich Leid für ihn, und obwohl sie ihn gar nicht so gut kannte, wünschte sie sich, dass sie etwas für ihn tun könnte.
Sie schob ihre Gefühle für einen Moment zur Seite, packte ihr Handy weg und betrat den Verhörraum. Mike Nell schaute sie an und gab sich keine Mühe seinen verächtlichen Blick zu verstecken. Aber jetzt war da noch was anderes. Er machte auch keinen Versuch die Tatsache zu verstecken, dass er sie sich genau anschaute, seine Augen schauten länger als nötig auf ihre Hüften.
“Gefällt Ihnen, was Sie sehen, Herr Nell?”, fragte sie und nahm Platz.
Völlig perplex von der Frage kicherte Nell nervös und sagte: “Ich glaube schon.”
“Ich nehme an, Sie wissen, dass Sie in Schwierigkeiten sind, weil Sie eine FBI-Agentin angegriffen haben, auch wenn es nur ein Schubs war.”
“Was ist mit ihrem kleinen Drehkreuz Stunt?”, fragte er.
“Wäre Ihnen meine Waffe lieber gewesen? Ein Schuss direkt in die Wade oder Schulter, damit Sie langsamer laufen?”
Nell hatte nichts dazu zu sagen.
“Es ist schon klar, dass wir nicht so schnell beste Freunde werden”, sagte Mackenzie, “also lassen Sie uns den Small Talk überspringen. Ich würde gerne wissen, wo Sie überall in den letzten Wochen waren.”
“Das ist eine lange Liste”, sagte Nell verteidigend.
“Ja, ich bin mir sicher, ein Mann von Ihrem Schlag kommt überall hin. Also beginnen wir einmal mit vor zwei Nächten. Wo waren Sie zwischen sechs Uhr abends und sechs Uhr morgens?”
“Vor zwei Nächten? Da war ich mit einem Freund unterwegs. Habe Karten gespielt, ein bisschen was getrunken, nichts Großes.”
“Kann das jemand außer ihrem Freund bezeugen?”
Nell zuckte mit den Schultern. “Ich weiß nicht. Da waren noch ein paar andere Männer, die mit uns gespielt haben. Warum fragen Sie das überhaupt?”
Mackenzie sah keinen Grund es noch länger, als nötig herauszuschieben. Wenn sie nicht so abgelenkt wäre, mit dem was Harrison passiert war, dann hätte sie ihn wahrscheinlich noch weiter bedrängt, bevor sie direkt auf den Punkt gekommen wäre, in der Hoffnung er würde sich selbst verraten, wenn er in der Tat schuldig war.
“Ein Paar wurde tot in ihrem Stadthaus gefunden, vor zwei Tagen. Es ist nun so, dass das in einem Haus passiert ist, das im selben Komplex der Stadthäuser liegt, in dem Sie wegen Diebstahl und schweren Überfalls verhaftet wurden. Das beides zusammen, plus der Tatsache, dass Sie seit weniger als einem Monat frei sind, bringt Sie ganz oben auf die Liste der infrage kommenden Personen.”
“Das ist Mist”, sagte Nell.
“Nein, das ist logisch. Etwas, von dem ich annehme, mit dem Sie nicht vertraut sind, wenn man sich ihren Polizeibericht ansieht.”
Sie konnte sehen, dass er eine Bemerkung machen wollte, aber er hielt sich zurück und kaute stattdessen wieder auf seiner Unterlippe. “Ich war nicht wieder an dem Ort, seit ich draußen bin”, sagte er. “Was sollte das für einen Sinn machen?”
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