“Hi”, sagte der etwa vierzigjährige Mann, der aus dem Truck stieg.
“Hi” antwortete Delores. Sie ging auf ihn zu, immer noch sauer über die Situation einem Fremden ausgeliefert zu sein, der so spät nachts angehalten hatte, um ihr zu helfen.
“Probleme mit dem Auto?”, fragte er.
“Tonnen davon”, sagte Delores und zeigte auf ihre Reifen. “Zwei geplatzte Reifen gleichzeitig. Können Sie das glauben?”
“Oh, das ist schrecklich”, erwiderte er. “Haben Sie Triple A oder eine Werkstatt oder so angerufen?”
“Kein Empfang”, sagte sie. Sie fügte fast hinzu “Ich bin nicht von hier”, aber entschied sich dann dagegen.
“Sie können meins benutzen”, sagte er. “Ich habe meistens mindestens zwei Balken hier draußen.”
Er machte einen Schritt nach vorne und griff in seine Tasche für sein Handy.
Nur, es war kein Handy, was er rauszog. Sie war verwirrt bei dem, was sie sah. Es machte keinen Sinn. Sie konnte nicht herausfinden, was es war und -
Plötzlich kam es auf ihr Gesicht zu, in schneller Geschwindigkeit. Ein Bruchteil einer Sekunde, bevor sie getroffen wurde, sah sie die Form und den Glanz von dem, was er über seine Finger gleiten ließ.
Einen Schlagring.
Sie hörte das Geräusch, als er ihre Stirn traf, fühlte einen Moment des Schmerzes und dann einen Moment später knickten ihre Knie ein und sie spürte, wie sie auf die harte Straße fiel. Das letzte, was sie mitbekam, war, wie der Mann sich schon fast sorgend zu ihr herunterbeugte, seine Taschenlampe schien in ihre Augen, bevor die Welt um sie herum schwarz wurde.
Mackenzie White stand unter einem schwarzen Schirm und beobachtete, wie der Sarg in die Erde herabgelassen wurde, während der Regen sich in einen stetigen Regenguss verwandelte. Das Weinen der Besucher wurde fast von den Regentropfen, die auf den Friedhofboden und die nahen Grabsteine fielen, übertönt.
Sie schaute mit einer schmerzvollen Traurigkeit zu, als ihr alter Partner, seine letzten Momente in der Welt der Lebenden verbrachte.
Der Sarg wurde auf den Stahlläufern, auf denen er die ganze Zeit während der Messe gelegen hatte, ins Grab gelassen, während die, die Bryers am Nächsten waren, danebengestanden hatten. Die Trauergesellschaft hatte sich nach den letzten Worten des Pastors fast vollständig aufgelöst, aber die engsten Angehörigen waren noch da.
Mackenzie stand an der Seite, zwei Reihen weiter. Ihr fiel ein, dass obwohl sie und Bryers ihre Leben mehrmals in die Hände des anderen gelegt hatten, sie ihn doch nicht so gut gekannt hatte. Das wurde unterstrichen von der Tatsache, dass sie keine Ahnung hatte, wer die Menschen waren, die zurückblieben, um zu sehen, wie er in die Erde hinabgelassen wurde. Da war ein Mann, der in seinen Dreißigern zu sein schien und zwei Frauen, die sich zusammen unter eine schwarze Plane drängten und noch einen letzten Moment mit ihm erlebten.
Als Mackenzie sich umdrehte, bemerkte sie eine ältere Frau, die eine Reihe dahinter stand und ihren eigenen Schirm hielt. Sie war ganz in schwarz gekleidet und sah recht nett aus, wie sie da im Regen stand. Ihr Haar war komplett grau, in einen Dutt gebunden, aber sie sah irgendwie jung aus. Mackenzie nickte ihr zu, als sie an ihr vorbeiging.
“Kannten Sie Jimmy?”, fragte die Frau plötzlich.
Jimmy?
Sie brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass die Frau über Bryers sprach. Mackenzie hatte seinen Vornamen nur ein oder zwei Mal gehört. Für sie war er einfach immer nur Bryers gewesen.
Vielleicht waren wir doch nicht so eng, wie ich gedacht hatte.
“Ja”, antwortete Mackenzie. “Wir haben zusammengearbeitet. Was ist mit Ihnen?”
“Ex-Frau”, sagte sie. Mit einem zittrigen Seufzen fügte sie hinzu: “Er war so ein guter Mann.”
Ex-Frau? Gott, ich hatte ihn wirklich nicht gekannt. Aber dunkel erinnerte sie sich an ein Gespräch während einer ihrer langen Fahrten, als er erwähnt hatte, bereits verheiratet gewesen zu sein.
“Ja, war er”, sagte Mackenzie.
Sie wollte der Frau davon erzählen, wie Bryers sie in ihrer Karriere angeleitet und wie er ihr das Leben gerettet hatte. Aber sie dachte, das es einen Grund dafür gab, warum die Frau sich selbst distanziert hatte, anstatt sich zu den drei kauernden Gestalten unter der Plane zu gesellen.
“Standen Sie ihm nahe?”, fragte die Ex.
Ich dachte, das wäre so, sagte Mackenzie und schaute mit Reue auf die Grabesstätte. Ihre Antwort fiel dennoch einfacher aus. “Nicht so.”
Sie drehte sich von der Frau mit einem bekümmerten Lächeln weg und ging zu ihrem Auto. Sie dachte an Bryers … sein trockenes Lächeln, die Art wie er selten gelacht hatte, aber wenn, dann war es schon fast explosiv gewesen. Sie dachte dann daran, wie die Arbeit jetzt sein würde. Sicher, das war egoistisch, aber sie konnte nicht anders und fragte sich, wie sich ihr Arbeitsumfeld jetzt verändern wurde, jetzt wo ihr Partner und der Mann, der sie unter seine Fittiche genommen hatte, tot war. Würde sie einen neuen Partner bekommen? Würde sich ihre Position ändern und sie wieder hinter einem Schreibtisch sitzen?
Gott, hör auf an dich selbst zu denken, dachte sie.
Der Regen tropfte auf den Schirm. Es war so laut, dass Mackenzie fast ihr Handy in ihrer Jackentasche überhört hätte.
Sie fummelte es aus ihrer Tasche, schloss die Autotür auf, legte den Schirm weg und setzte sich hinein, weg von dem Regen.
“White hier!”
“White, hier ist McGrath. Sind Sie noch auf der Beerdigung?”
“Ich gehe gerade”, antwortete sie.
“Es tut mir wirklich leid mit Bryers. Er war ein guter Mann. Und ein verdammt guter Agent.”
“Ja, das war er”, sagte Mackenzie.
Aber als sie durch den Regen auf das Grab zurückschaute, hatte sie das Gefühl, Bryers überhaupt nicht gekannt zu haben.
“Ich hasse es zu unterbrechen, aber ich brauche Sie hier. Können Sie in mein Büro kommen?”
Sie fühlte wie ihr Herz einen Schlag aussetzte. Es hörte sich ernst an.
“Was ist los?”, fragte sie.
Er machte eine Pause, als wenn er überlegte es ihr zu sagen, dann sagte er endlich:
“Ein neuer Fall”.
***
Als sie vor McGraths Büro ankam, sah Mackenzie Lee Harrison, der im Wartebereich saß. Sie erinnerte sich an ihn, als ein Agent, der ihr als zeitweiliger Partner zugeteilt worden war, als Bryers krank geworden war. Sie hatten sich über die letzten Wochen kennengelernt, aber hatten noch nicht die Gelegenheit gehabt, miteinander zu arbeiten. Er schien ein ganz netter Agent zu sein – vielleicht ein wenig zu vorsichtig für ihren Geschmack.
“Hat er dich auch angerufen?”, fragte Mackenzie.
“Ja”, sagte er. “Es scheint, das wir unseren ersten Fall zusammen bekommen. Ich dachte, ich warte auf dich, bevor ich anklopfe.”
Mackenzie war sich nicht sicher, ob er das aus Respekt ihr gegenüber gemacht hatte oder aus Angst vor McGrath. Egal wie, sie dachte, dass es eine gute Entscheidung gewesen war.
Sie klopfte an die Tür und wurde von einem kurzen “Kommen Sie rein” von der anderen Seite begrüßt. Sie winkte Harrison heran und sie gingen zusammen hinein. McGrath saß hinter seinem Tisch und tippte etwas auf seinem Laptop. Zwei Aktenordner lagen auf der linken Seite, als wenn sie nur darauf warteten, angefordert zu werden.
“Setzten Sie sich, Agenten”, sagte er.
Mackenzie und Harrison nahmen jeder auf einem Stuhl vor McGraths Tisch Platz. Mackenzie sah, dass Harrison ganz steif saß und seine Augen ganz weit waren … nicht unbedingt vor Angst, aber sicherlich war er ziemlich aufgeregt.
“Wir haben einen Fall im ländlichen Iowa”, begann er. “Da Sie dort aufgewachsen sind, dachte ich, dass Sie sich gut dafür eignen, White.”
Sie räusperte sich, peinlich berührt.
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