Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu, “Ich brauche mehr Zeit. Ich bin immer noch beurlaubt und versuche wirklich mein Leben in den Griff zu bekommen.”
Ein langes Schweigen folgte. Es klang nicht, als würde Meredith versuchen mit ihr darüber zu diskutieren oder ihr einen Befehl zu geben. Aber er würde ihr auch nicht sagen, dass es für ihn in Ordnung war. Er würde den Druck nicht von ihr nehmen.
Sie hörte Meredith lange und traurig seufzen. “Garrett und Nancy waren seit Jahren entfremdet. Das, was ihr jetzt passiert ist, frisst ihn innerlich auf. Ich nehme an, dass darin eine Lektion zu lernen ist. Man sollte niemanden in seinem Leben als selbstverständlich ansehen. Nie den Kontakt verlieren.”
Riley fiel fast das Telefon aus der Hand. Meredith hatte einen Nerv getroffen, der seit langem unberührt geblieben war. Riley hatte vor Jahren den Kontakt mit ihrer Schwester verloren. Sie waren entfremdet und sie hatte schon lange nicht mehr an Wendy gedacht. Sie hatte keine Ahnung, was ihre Schwester gerade tat.
Nach einer weiteren Pause sagte Meredith, “Versprechen Sie mir, dass Sie darüber nachdenken.”
“Das werde ich”, erwiderte Riley.
Sie beendete den Anruf.
Sie fühlte sich fürchterlich. Meredith hatte ihr durch schwere Zeiten geholfen und es war das erste Mal, dass er ihr gegenüber Verletzlichkeit zeigte. Sie hasste es, ihn zu enttäuschen. Und sie hatte ihm gerade versprochen darüber nachzudenken.
Und auch wenn sie es unbedingt wollte, war Riley sich nicht sicher, dass sie nein sagen konnte.
Der Mann saß in seinem Wagen auf dem Parkplatz und beobachtete die Nutte, die die Straße entlang ging. “Chiffon”, nannte sie sich. Offensichtlich nicht ihr richtiger Name. Und er war sich sicher, dass es noch eine Menge gab, was er nicht über sie wusste.
Ich könnte sie allerdings dazu bringen es mir zu sagen, dachte er. Aber nicht hier. Nicht heute.
Er würde sie heute auch nicht töten. Nein, nicht genau hier, so nah an ihrem üblichen Arbeitsplatz - dem sogenannten “Kinetic Custom Gym.” Von seinem Blickwinkel aus konnte er die altersschwachen Geräte im Schaufenster sehen - drei Laufbänder, eine Rudermaschine, und ein paar Gewichtstrainingsgeräte, von denen keine funktionierte. Soweit er wusste, kam niemand her, um wirklich zu trainieren.
Zumindest nicht auf die übliche Art und Weise, dachte er mit einem Grinsen.
Er kam nicht oft her - nicht seit der Brünetten, die hier vor Jahren gearbeitet hatte. Natürlich hatte er sie nicht hier getötet. Er hatte sie für “Extra Service” und mit dem Versprechen von viel Geld in ein Motelzimmer gelockt.
Selbst da war es noch kein vorsätzlicher Mord gewesen. Die Plastiktüte über ihrem Kopf war nur eine Fantasie gewesen, um dem Ganzen ein Gefühl von Gefahr zu geben. Aber nachdem es vorbei gewesen war, hatte ihn das Gefühl tiefer Befriedigung überrascht. Es war höchster Genuss gewesen, einzigartig selbst in seinem Leben voller Genüsse.
Trotzdem hatte er in seinen Rendezvous seither mehr Vorsicht und Zurückhaltung walten lassen. Oder zumindest hatte er das bis zur letzten Woche, als das gleiche Spiel mit einem Callgirl wieder tödlich ausgegangen war – wie war noch gleich ihr Name?
Oh, ja, erinnerte er sich. Nanette.
Er hatte vermutet, dass Nanette nicht ihr richtiger Name war. Jetzt würde er es nie herausfinden. Tief in seinem Herzen wusste er, dass ihr Tod kein Unfall gewesen war. Nicht wirklich. Er hatte es tun wollen. Und sein Gewissen war unbefleckt. Er war bereit es wieder zu tun.
Die, die sich selber Chiffon nannte, kam ihm etwa einen halben Block entfernt entgegen. Sie trug ein gelbes Top und einen kaum vorhandenen Rock und stöckelte auf unglaublich hohen Schuhen in Richtung Fitnessstudio, während sie telefonierte.
Er wollte unbedingt wissen, ob Chiffon ihr richtiger Name war. Ihr bisher einziges Treffen war ein Fehlschlag gewesen - ihre Schuld, nicht seine, dessen war er sich sicher. Etwas an ihr hatte ihn abgestoßen.
Er wusste, dass sie älter war, als sie vorgab. Es war mehr als nur ihr Körper - selbst Nutten im Teenageralter hatten oft Schwangerschaftsstreifen von der einen oder anderen Geburt. Und es waren auch nicht die Falten in ihrem Gesicht. Nutten alterten deutlich schneller, als alle anderen Frauen, die er kannte.
Er konnte nicht genau sagen warum. Aber es gab viel an ihr, was ihn verwirrte. Sie zeigte eine Art mädchenhaften Enthusiasmus, der nicht das Zeichen einer wahren Professionellen war - nicht einmal das einer Anfängerin.
Sie kicherte zu viel, als würde sie ein Spiel spielen. Sie war zu eifrig. Und er vermutete sogar, dass sie seltsamerweise ihren Job tatsächlich zu mögen schien.
Eine Nutte, die Spaß an dem Sex hat, dachte er, während er sie näherkommen sah. Wer hat so was schon mal gehört?
Wenn er ehrlich war, dann törnte es ihn ab.
Wenigstens war er sich sicher, dass sie keine verdeckte Ermittlerin war. Das hätte er sofort bemerkt.
Als sie nah genug war, um ihn zu sehen, drückte er auf die Hupe. Sie hielt einen Moment inne, sah in seine Richtung und schirmte ihre Augen von der Sonne ab. Als sie sah, wer es war, winkte sie und lächelte - ein Lächeln, das für alle Welt völlig aufrichtig aussehen musste.
Dann ging sie auf die Rückseite des Fitnessstudios zum “Mitarbeiter” Eingang. Ihm wurde klar, dass sie wahrscheinlich eine Verabredung in dem Puff hatte. Es machte nichts aus, er würde sie ein andermal nehmen, wenn ihm nach einer anderen Art von Vergnügen war. In der Zwischenzeit gab es hier genug andere Nutten.
Er erinnerte sich daran, wie sie das letzte Mal auseinander gegangen waren. Sie war fröhlich gewesen und freundlich und entschuldigend.
“Komm jederzeit wieder”, hatte sie ihm gesagt. “Das nächste Mal wird es besser. Wir verstehen uns dann bestimmt besser. Das wird dann wirklich anregend.”
“Oh Chiffon”, murmelte er laut. “Du hast ja keine Ahnung.”
Der Lärm von Schüssen hallte um Riley herum. Zu ihrer Linken hörte sie das laute Krachen einer Pistole. Zu ihrer Rechten war schwerere Artillerie zu hören - Schüsse von Sturmgewehren und das Stakkato von Maschinenpistolen.
Mitten in dem Toben zog sie die Glock aus ihrem Hüftholster, nahm eine Bauchlage ein und feuerte sechs Kugeln. Dann richtete sie sich in eine kniende Position auf und feuerte dreimal. Sie lud schnell und geschickt nach, stand dann auf und feuerte sechs Kugeln, wonach sie zurück auf ein Knie fiel und drei weitere Kugeln mit der linken Hand feuerte.
Sie stand auf, holsterte ihre Waffe, trat dann von der Feuerlinie zurück und zog ihre Ohrschützer und die Schutzbrille ab. Das Ziel war etwa 23 Meter entfernt. Auch aus der Distanz konnte sie sehen, dass all ihre Schüsse gut zentriert waren. Auf benachbarten Linien übten FBI Akademie Studenten unter der Aufsicht ihrer Ausbilder.
Es war eine Weile her, das Riley ihre Waffe abgefeuert hatte, auch wenn sie in ihrem Job immer bewaffnet war. Sie hatte einen Platz auf dem Schießübungsplatz der FBI Akademie für Zielübungen reserviert und wie immer war da etwas seltsam Befriedigendes an dem machtvollen Rückstoß der Waffe, ihrer rohen Gewalt.
Sie hörte eine Stimme hinter sich.
“Die alte Schule, was?”
Sie sah sich um und entdeckte Spezialagent Bill Jeffreys nicht weit von sich mit einem breiten Grinsen. Sie lächelte zurück. Riley wusste genau, was er mit “alter Schule” meinte. Vor einigen Jahren hatte das FBI die Regeln der Schusswaffenqualifikation für Handwaffen geändert. Aus der Bauchlage heraus zu feuern war nun nicht mehr verlangt. Der Schwerpunkt lag mittlerweile darauf Ziele auf kurze Distanz, zwischen zweieinhalb und sechseinhalb Metern, zu treffen. Unterstützt wurde das durch die Virtuelle-Realität-Installation, in der Agenten Szenarios üben konnten, die bewaffnete Konfrontationen in engen Räumen simulierten. Und die Anwärter wurden alle durch die notorische Hogan's Alley geschickt, eine vier Hektar große, künstliche Stadt, in der sie Terroristen mit Paintball-Waffen bekämpften.
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