Er hasste es, wenn die Logik der Eltern sein eigenes Denken beeinflusste, aber so war es eben. Er wollte Biologe werden. Das bedeutete, dass er auf ein richtig gutes College gehen musste – er hoffte auf das Caltech oder das MIT. Nein, seinem Onkel zu helfen, war der direkte Weg in Schwierigkeiten.
Onkel Alex, natürlich erinnere ich mich an dich! Ich bin stolz auf dein Vertrauen in mich, aber ich weiß absolut nichts über Computerviren. Ja, ich kenne mich ganz gut mit Computern aus, aber es geht dabei hauptsächlich um Onlinespiele und Biologie. Ich glaube nicht, dass ich dir helfen kann. Leon
Biologie war auch das Thema der nächsten Stunde. Der Gedanke an sein Lieblingsfach brachte ein Lächeln auf sein Gesicht. Er konnte nicht sagen, was ihm so sehr an seinem Biologiekurs gefiel, aber er konnte nicht leugnen, dass es die Stunde war, auf die er sich jeden Tag am meisten freute.
Von allem Stoff in der Schule barg Biologie für ihn die kühnsten Konzepte: Leben konnte jederzeit aus dem Nichts entstehen. Es konnte sich ohne ein spezifisches Ziel entwickeln. Alles, was den Menschen ausmachte, war Zufall und Überlebensinstinkt. Man konnte Lebensformen variieren, sie auf der Basisebene verändern, um neue Lebensformen entstehen zu lassen. Die Möglichkeiten waren grenzenlos und spontan.
In der heutigen Biologiestunde ging es um rekombinante DNS, eine Technik, mit der man DNS-Sequenzen aus verschiedenen Quellen zusammenbrachte, um Kombinationen zu erzeugen, die es in der Natur nicht gab. Am Ende der Stunde ging Leon zur Tür, tief in Gedanken über die DNS von Caninen versunken. Plötzlich schnitt ihm Mrs. Gellender den Weg ab.
»Leon, hast du eine Minute?«
Leon sah sich um, wollte sich vergewissern, dass keine Freunde von ihm in der Nähe waren. Die Luft war rein. Er nickte.
»Ich baue ein Schulteam für Computerbiologie auf. Es wird in New York eine neue Stadtliga geben. Ich denke, du wärst perfekt. Das Team wird sich nach der Schule treffen.«
Leon mochte Mrs. Gellender. Er hatte sie wirklich gern. Und er liebte das Fach Biologie. Ein Teil von ihm war interessiert, wirklich interessiert. Aber, Mann-o-Mann, wie uncool wäre das denn? Und dann auch noch nach der Schule hierbleiben – das nervte.
Mrs. Gellender musste seinen Gesichtsausdruck richtig gedeutet haben. »Du machst exzellente Arbeit in meinem Biologiekurs. Das Essay über Evolution, das du eingereicht hast, war wirklich inspirierend. Mir gefiel die Art, wie du biologische Evolution mit der Spieltheorie verknüpft hast.«
Leon spürte, wie er rot wurde. Wenn es etwas gab, was noch schlimmer war als nach der Stunde zu bleiben, um mit der Lehrerin zu reden, dann war es, von ihr für die Hausaufgaben gelobt zu werden. Wie peinlich konnte es noch werden?
»Denk einfach darüber nach. Bitte. Mitglied des Teams zu sein, würde dir auch sicher bei deinem College-Stipendium helfen.« Mrs. Gellender hielt ihm einen Hochglanzflyer hin.
Leon nahm das Blatt und hörte die Worte aus seinem Mund kommen. »Okay, ich mache es.«
Er ging aus den Raum. Collegestipendium. Wenn er aufs College, auf irgendein College gehen wollte, brauchte er ein Stipendium. Seine Mutter machte Maniküre, sein Vater Grafikdesign. Sie machten beide nicht das große Geld.
Schließlich lief er durch die nun leeren Schulkorridore auf den Haupteingang zu. Als er durch die Tür ging, wurde er von beiden Seiten attackiert. »HAJAAAH«, erklang der Kampfschrei, und Leon fuhr zurück.
James und Vito standen lachend da. Mit klopfendem Herzen keuchte Leon: »Ihr Idioten, ich hatte fast einen Herzanfall.«
»Wenn du wirklich einen Herzanfall willst, dann schaue dir das hier an.«
James griff in seine Jackentasche und zog einen schwarzen Quader heraus. Er hielt ihn Leon hin. Der leckte sich die Lippen und nahm es James aus der Hand. Es war das dunkelste, matte Schwarz, das Leon je gesehen hatte. Es fühlte sich ein wenig warm an, wie ein Stück Holz, das in der Sonne gelegen hatte. Leon drehte es immer wieder in seinen Händen. Es gab keine Nähte oder Kanten oder Zeichen auf dem Gehäuse. Eine absolut perfekte Oberfläche.
»Das Gibson«, stammelte Leon ehrfürchtig.
James nickte stolz. »Ich habe die Lieferbestätigung bekommen und einen Kurs ausgelassen, um nach Hause zu laufen und es zu holen.«
Leon konnte nicht aufhören, das elektronische Monstrum in seinen Händen zu bestaunen, seine dichte Masse zu spüren. Das Gibson hatte den ersten Prozessor aus Carbongraphen. 256 Prozessorkerne mit der niedrigsten Energieaufnahme, die je entwickelt worden war. Ein voll bewegungssensitives Display. Es hatte Hitachi-Sony sechs Jahre gekostet, die Technologie zu perfektionieren.
»Okay, gib es mir zurück.«
Als James ihm das Smartphone abnahm, erwachte es in seinen Händen zum Leben. Jeder Millimeter Oberfläche war Teil des Displays, und die Muster bewegten sich, als James darüber strich. »Komm schon, gehen wir zu dir und spielen Mech War. Ich will sehen, was dieses Baby kann.«
Leon nickte nur, seine sechs Monate alte Chinakopie eines Hitachi-Sony Stross Smartphones erschien ihm plötzlich uralt.
Später am Abend räumte Leon das Chaos von Tellern und Gläsern aus seinem Zimmer und brachte sie so leise wie möglich in die Küche. Er wollte vermeiden, seine Eltern zu wecken. James und Vito waren bis kurz vor dem Abendessen geblieben, um zusammen eine ›Mech War‹- Mission zu beenden. James' neues Gibson hatte sie alle geflasht. Es renderte die Grafik so unglaublich detailliert, dass Leon und Vito die eigenen Bildschirme ignorierten, um auf James' Bildschirm zu starren.
Als aber seine Mutter verkündete, dass es Kohlsuppe zum Abendessen gab, waren James und Vito hastig nach Hause geflüchtet, da sie sich urplötzlich daran erinnerten, dass sie von ihren Eltern erwartet wurden.
Drei Stunden später schliefen seine Eltern endlich, und Leon hatte Zeit, sich die Nachricht anzusehen, die er so lange ignoriert hatte. Warum räumte er auch sonst sein Zimmer auf? Doch nur, um die Nachricht nicht lesen zu müssen. Er gab auf und sank auf sein Bett. Mit einer Fingerbewegung über sein Smartphone löschte er das Licht, sodass er durch sein schmales Fenster die Lichter der Stadt sehen konnte. Er fuhr seine Email-App hoch.
Leon, ich weiß, dass du das eine oder andere über das Programmieren weißt. Ich habe deine Schulnoten gesehen, deine Eignungstests und die Kommentare deiner Lehrer. Ich denke, du könntest mir helfen, lehnst es aber vielleicht aus moralischen Gründen ab. Aber sieh es so: Wenn du mir nicht hilfst, werde ich wahrscheinlich in ein paar Tagen tot sein.
Wenn du also über richtig oder falsch nachdenkst, dann denk daran, wie dein Vater sich fühlen würde, wenn er wüsste, dass du mir hättest helfen können, es aber nicht getan hast.
Leon wurde übel, als er die Nachricht las. Sein Vater würde nicht wollen, dass er etwas Falsches tat. Aber sein Vater würde auch nicht wollen, dass seinem Bruder etwas geschah. Er dachte wieder über den Besuch von Onkel Alex nach und wie sein Vater gelacht hatte. Was zur Hölle sollte er tun? Wenn er seinen Eltern erzählte, was sein Onkel nicht wollte, würden sie krank vor Sorge sein.
Ich wollte dich da raushalten, aber sie haben meine Mails an dich gelesen und wissen, dass du helfen könntest. Sie könnten dich besuchen kommen. Sei sehr vorsichtig.
Verdammt – konnte es überhaupt noch schlimmer kommen? Er wollte nicht Teil von so etwas sein! Er wollte sein Smartphone schon auf das Bett werfen, zog aber stattdessen den Silikonquader zu sich heran und wiegte ihn in seinen Händen.
Anfänge
Mike Williams fuhr auf den Parkplatz, das elektrische Summen des Motors seines Jettas wurde leiser. Er parkte neben dem Gebäude, ignorierte die Flotte brandneuer Hondas auf dem vorderen Parkplatz. Die Firma hatte den Stellplatz an den Hafen vermietet, damit er nicht so leer wirkte. Als er in den Rückspiegel sah, stutzte er. Seit wann hatte er so viel graues Haar? Nun ja, niemand hatte behauptet, dass dieser Job leicht werden würde. Mit einem Seufzer verließ er den Wagen.
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