Frances Hardinge - Schattengeister
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FRANCES HARDINGE
SCHATTENGEISTER
Aus dem Englischen von Alexandra Ernst
Für meine Patentochter Harriet, die meinen Hunger nach Büchern und außergewöhnlichen Abenteuern teilt .
INHALT
TEIL 1: GEISTERKIND
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
TEIL 2: GOTELYS KATZE
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
TEIL 3: MAUD
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
TEIL 4: JUDITH
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
TEIL 5: NIEMANDSLAND
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
TEIL 6: WHITEHOLLOW
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
TEIL 7: DAS ENDE DER WELT
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
DANKSAGUNG
Leseprobe
PROLOG
GESICHTSLOS
KAPITEL 1
Als Makepeace zum dritten Mal schreiend aus einem Albtraum erwachte, wurde ihre Mutter wütend.
«Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht so träumen sollst!», zischte sie leise, um den Rest des Hauses nicht zu wecken. «Und wenn du es doch tust, darfst du nicht schreien!»
«Ich konnte mich nicht beherrschen», flüsterte Makepeace, eingeschüchtert durch den strengen Ton ihrer Mutter.
Mutter nahm Makepeaces Hände. Ihre Miene war angespannt und ernst im ersten Licht des Morgens.
«Dir gefällt dein Zuhause nicht. Du lebst nicht gern mit deiner Mutter zusammen.»
«Doch! Doch!», rief Makepeace. Sie hatte das Gefühl, ihr würde der Boden unter den Füßen weggezogen.
«Dann musst du lernen, dich zu beherrschen. Wenn du jede Nacht schreist, werden schreckliche Dinge geschehen. Vielleicht wirft man uns aus dem Haus!»
Auf der anderen Seite der Wand schliefen Makepeaces Tante und Onkel, denen die Pastetenbäckerei unten im Erdgeschoss gehörte. Die Tante war laut und ehrlich, aber der Onkel schaute immer griesgrämig drein und war niemals zufrieden. Seit sie sechs Jahre alt war, musste Makepeace auf ihre vier kleinen Kusinen und Vettern aufpassen, die ständig gefüttert, gesäubert, verarztet, umgezogen oder von den Bäumen der Nachbarn heruntergeholt werden mussten. In der wenigen freien Zeit, die ihr noch blieb, erledigte sie Botengänge und half in der Küche. Trotzdem schliefen Mutter und Makepeace auf einer Matratze in einer zugigen kleinen Kammer abseits der anderen Schlafzimmer. Ihr Platz in dieser Familie kam ihnen nur geliehen vor, als ob man ihnen jederzeit fristlos kündigen konnte.
«Und schlimmer noch – jemand könnte den Pastor rufen», fuhr Mutter fort. «Oder … andere könnten davon erfahren.»
Makepeace wusste nicht, wer diese anderen sein sollten, aber «andere» waren immer eine Bedrohung. Zehn Jahre mit ihrer Mutter hatten sie gelehrt, dass man niemandem vertrauen durfte.
«Ich versuch’s ja!» Nacht für Nacht betete Makepeace inbrünstig und legte sich dann in die Dunkelheit, in der festen Absicht, nicht zu träumen. Aber der Albtraum suchte sie trotzdem heim, voller Mondlicht, Geflüster und unfertiger Formen und Gestalten. «Was soll ich tun? Ich will ja aufhören!»
Mutter schwieg lange Zeit, dann drückte sie Makepeaces Hand.
«Ich erzähle dir eine Geschichte», sagte sie, was sie manchmal tat, wenn es eine ernste Angelegenheit zu besprechen gab. «Es war einmal ein kleines Mädchen, das hatte sich im Wald verlaufen, wo es von einem Wolf gejagt wurde. Das Mädchen rannte und rannte, bis seine Füße blutig waren, und immer noch rannte es weiter, denn es wusste, dass der Wolf Witterung aufgenommen hatte und der Spur immer noch folgte. Das Mädchen hatte zwei Möglichkeiten: Entweder es rannte und versteckte sich bis in alle Ewigkeit, oder aber es blieb stehen und schnitt sich einen spitzen Stock, um sich zu verteidigen. Was hättest du getan, Makepeace?»
Makepeace wusste, dass diese Geschichte nicht bloß eine Geschichte war und dass viel von ihrer Antwort abhing.
«Kann man einen Wolf mit einem Stock bekämpfen?», fragte sie zweifelnd.
«Mit einem Stock hat man eine Chance.» Ihre Mutter schenkte ihr ein kleines, trauriges Lächeln. «Eine geringe Chance. Aber es ist gefährlich, stehen zu bleiben.»
Makepeace dachte lange nach.
«Wölfe können schneller rennen als Menschen», sagte sie schließlich. «Selbst wenn sie immer weiterrennt, wird der Wolf sie eines Tages erwischen und auffressen. Sie braucht einen spitzen Stock.»
Mutter nickte langsam. Sie sagte nichts mehr und erzählte auch nicht, wie die Geschichte ausging. Makepeace gefror das Blut in den Adern. So war Mutter manchmal. Aus Gesprächen wurden Rätsel mit Fallstricken, und die Antworten blieben nie ohne Folgen.
Solange sich Makepeace erinnern konnte, hatten sie und ihre Mutter in der kleinen, geschäftigen Beinahe-Stadt Poplar gelebt. Eine Welt ohne den Gestank nach Kohlenfeuerrauch und Teer, der von den großen, ratternden Werften geweht kam, ohne die rasselnden Pappeln, die dem Ort seinen Namen gegeben hatten, und ohne die saftig grünen Marschen, wo das Vieh graste, war für sie nicht vorstellbar. London lag ein paar Meilen entfernt, eine dunstige Masse voller Bedrohung und Verlockung. Das alles war ihr so vertraut, gehörte zu ihr wie ihr Atem. Und doch hatte Makepeace nicht das Gefühl, hierher zu gehören.
Mutter sagte niemals: Dies ist nicht unser Zuhause . Aber ihre Augen sagten es unentwegt.
Als sie nach Poplar gekommen war, hatte Mutter ihrer kleinen Tochter einen neuen Namen gegeben und sie fortan Makepeace gerufen, damit man sie hier beide leichter annehmen würde. Makepeace kannte ihren ursprünglichen Namen nicht, und dieser weiße Fleck in ihrem Leben sorgte dafür, dass sie sich ein bisschen unwirklich fühlte. Makepeace kam ihr auch nicht wie ein richtiger Name vor. Es war ein Friedensangebot – denn genau das bedeutete ihr Name: Frieden stiften –, ein Angebot an Gott und alle gottesfürchtigen Leute von Poplar. Es war eine Entschuldigung für die Lücke, wo Makepeaces Vater hätte sein sollen.
Alle, die sie kannten, waren gottesfürchtig. Die Gemeinde hatte sich dieses Attribut selbst verliehen, nicht aus Stolz, sondern um sich von all jenen abzugrenzen, die auf der dunklen Straße zur Hölle unterwegs waren. Makepeace war nicht die Einzige mit einem merkwürdigen, fromm klingenden Namen. Da gab es noch Verity, What-God-Will, Forsaken, Deliverance, Kill-Sin und so weiter.
Jeden zweiten Abend fanden im Salon der Tante Gebetsstunden und Bibellesungen statt, und sonntags gingen alle in die hoch aufragende Kirche aus grauem Kalkstein.
Der Pastor war ein freundlicher Mann, wenn man ihm auf der Straße begegnete, aber oben auf der Kanzel war er furchterregend. Wenn Makepeace in die gebannten Gesichter der Gläubigen schaute, dann wusste sie, dass aus ihm eine große Wahrheit leuchten musste – und Liebe, wie aus einem kalten, weißen Kometen. Er predigte ihnen, sich gegen die teuflischen Versuchungen zur Wehr zu setzen, zu denen der Alkohol, das Glücksspiel, der Tanz, die Theater und alle unnützen Vergnügungen am Sabbath zählten, alles Fallstricke, die Satan ausgelegt hatte. Er erzählte ihnen, was in London und der großen weiten Welt vor sich ging, erzählte von den jüngsten Intrigen am Hof, den Machenschaften der tückischen Katholiken. Seine Predigten waren beängstigend und gleichzeitig erregend. Manchmal hatte Makepeace beim Verlassen der Kirche das prickelnde Gefühl, dass die Gemeindemitglieder Soldaten in glänzenden Rüstungen waren, die gegen die Mächte der Finsternis zu Felde zogen. Dann konnte sie eine kleine Weile glauben, dass Mutter und sie selbst Teil von etwas Größerem waren, von etwas Wunderbarem, das sie mit all ihren Nachbarn gemein hatten. Doch dieses Gefühl war nie von Dauer. Nach kurzer Zeit standen sie wieder zu zweit auf einsamem Posten.
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