Aber nicht nur die „Ghost“ und die Schebecke, sondern jedes andere Schiff würde die gleichen Schwierigkeiten haben. Ben Brighton und Hasard hatten dem Bericht schweigend zugehört.
„Sind die entsprechenden Karten in deiner Kammer?“ fragte der Seewolf.
„Ja, natürlich. Wie gesagt: von den Eingeborenen war trotz Doglees Übersetzungen nicht viel mehr zu erfahren. Spätestens morgen oder übermorgen sehen wir selbst, wohin uns Ruthland gelockt hat.“
„Ich denke, er wird dort auch nicht froh werden“, meinte Ben Brighton.
„Und das Lachen wird ihm ganz vergehen“, Al Conroy streichelte liebevoll das Metall einer Culverine auf der Kuhl, „wenn ich ihm ein paar eiserne Grüße hinüberschicke.“
Hasard hatte den größten Teil der Crew unter Deck entlassen. Die Köche bereiteten das Essen zu, und die Deckswache hielt Ausschau nach Ruthlands verdammter „Ghost“. Eine Hetzjagd während der Monsunzeit und in diesen unbekannten Gewässern zählte nicht gerade zu den dringenden Wünschen der Arwenacks. Trotz allem, was sie zu erwarten hatten – nicht einer dachte daran, Ruthland und seine Crew entwischen zu lassen.
Vier Stunden später hatte der Wind sämtliche Wolken vom Himmel gefegt. Auf den weiten Wogen der Dünung lagen das Licht der Sterne und das silberfarbene Leuchten des Mondes. Im Nordosten wetterleuchtete es, und an Steuerbord waren inmitten der Mangrovenwälder und der Sandküste winzige Feuer zu erkennen, vier Stück insgesamt.
Die Schebecke segelte weitab der Küste, und jeder hoffte, daß das Fahrwasser von Untiefen frei war. Im letzten Licht war Dan in den tonnenförmigen Ausguck im Großmast aufgeentert und hatte die See voraus mit seinen scharfen Augen und dem Kieker abgesucht.
Er kehrte zurück und sagte zufrieden, daß sie bis zum ersten Tageslicht den Kurs halten könnten.
Trotzdem stand er auf der Back und versuchte, Hindernisse schon zu erkennen, bevor sie gefährlich wurden, bis ihn Don Juan ablöste.
Leise unterhielten sich die Mitglieder der Deckswache.
„Es ist doch besser“, sagte Batuti, „daß wir heute keine Lichter gesetzt haben.“
„Meinst du allen Ernstes“, fragte Dan, der bei ihnen saß und einen letzten Schluck trank, ehe er sich in seine Koje verholte, „daß dieser Bastard Ruthland nach uns Ausschau hält?“
„An seiner Stelle würde ich nichts anderes tun. Er kann sich vorstellen, wie der Seewolf zubeißt“, murmelte Blacky.
„Diese Feuer an Steuerbord“, fragte Batuti, „gehören die zu Fischerdörfern?“
Dan gähnte und erwiderte: „Fischerdörfer, Holzfäller, Leute, die in den Wäldern Tiere jagen und die Häute verkaufen, was weiß ich. Für uns sind sie nicht gefährlich. Vielleicht können wir von ihnen Proviant einhandeln, wenn die Köche Abwechslung brauchen.“ Er nickte den anderen zu. „Ich lege mich aufs Ohr.“ Dan stand auf und verzog sich unter Deck.
Mit dem vertrauten Knarren und Knarzen, mit dem Summen des Windes in der Takelage und dem ziehenden Gurgeln des Bugwassers segelte die Schebecke durch die klare Nacht, fast genau auf Nordkurs.
Die Ruhe würde spätestens in einigen Stunden vorbei sein. Entweder sichteten sie die „Ghost“, oder sie gerieten in gefährliche Fahrwasser. Wahrscheinlich trafen beide Ereignisse zusammen, wie sooft.
Schon in der kurzen Morgendämmerung konnten die Seewölfe erkennen, daß sich die Umgebung verändert hatte. An Steuerbord breitete sich hinter der Brandungslinie noch immer Wald aus, unterbrochen von kleinen Stränden und Mangrovendickichten.
„Ich kann kein Segel erkennen, keinen Mast, keinen Rumpf“, sagte Hasard und packte das Spektiv wie einen Knüppel. „Wahrscheinlich gibt es ein paar hundert Schlupfwinkel, in denen die ‚Ghost‘ stecken kann.“
„Genauso wird’s sein“, antwortete der Erste.
Steuerbord voraus erstreckte sich eine lange Sandbank, die in der Mitte bewachsen war. Ein Schwarm Vögel flog mit trägem Flügelschlag auf und umkreiste den langgestreckten Wall aus Schwemmgut und bleichem Treibholz, zwischen dem sich Büsche und niedrige Bäume erhoben. Die Schebecke fiel nach Backbord ab.
„Ebbe?“ erkundigte sich Ferris Tucker und schirmte seine Augen ab, als er nach Osten blickte. „Scheint so, Sir.“
„Nach Dans Berechnungen und dem, was wir sehen“, erwiderte der Seewolf etwas unwillig, „ist da eine Menge trocken gefallen.“
Er peilte zum Bug. Dort stand Hasard junior und beobachtete das Wasser vor dem Schiff. Es hatte seine Farbe geändert. Gestern hatte es tiefes Blau gezeigt, jetzt war es von dünnen gelben Schlieren durchzogen, als habe der Fluß, dessen Mündung nicht zu erkennen war, Staub oder Sand mit sich geschwemmt.
Auch Big Old Shane suchte die Kimm mit dem Kieker ab. Über dem Wasser lag ein fahler Dunst, der sich in der Kraft der Helligkeit der Sonne nur zögernd auflöste. Trotzdem waren voraus und an Steuerbord Buchten und die Mündungen kleiner Wasserläufe zu erkennen. Die Ufer waren dicht bewachsen, jetzt wirkte das Buschwerk und das Gestrüpp drohend und schwarz. Nur wenige dünne Rauchsäulen stießen durch den rötlichen Nebel. Feuchtigkeit schlug sich auf den Planken und den Segeln nieder.
„Von der ‚Ghost‘ ist nichts zu sehen“, sagte Big Old Shane und zauste seinen struppigen grauen Bart. „Die Masttopps müßten höher sein als die meisten Bäume.“
„Ich habe nicht erwartet“, erwiderte Hasard grimmig, „daß wir den Hundesohn schnell entdecken.“
Die Uferlandschaften glitten langsam vorbei.
Hin und wieder konnten die Seewölfe in eine Bucht sehen. Auf Pfählen standen kleine Hütten, von denen Leitern hinunterführten zu den schmalen Booten, die im Wasser schaukelten. Zwischen den Matten, aus denen die dünnen Wände bestanden, schwelten Feuer, deren Rauch durch die löchrigen Dächer abzog.
Schweigend und gegen die Sonne blinzelnd, starrten die Seewölfe hinüber. Aber es gab nicht das geringste Zeichen dafür, daß sich die Karavelle dort versteckte.
Hasard winkte zu Ben Brighton hinüber. „Nehmt die Fock weg. Wir sind zu schnell.“
„Aye, aye, Sir“, erwiderte der Erste.
Die Schebecke wich etwas nach Nordwesten vom bisherigen Kurs ab. Am Ende der langen Sandbank ragten einige abgestorbene Bäume aus dem trüben Wasser.
Jung Philip wandte sich an seinen Vater. „Soll ich in den Großmast?“
„Ja“, entgegnete der Seewolf zerstreut, ohne das Spektiv zu senken.
„Ein Strich nach Westen abfallen!“ rief Ben Brighton.
Entlang der Grenzen, die das Meer und das Wasser der Buchten bildeten, standen Fischer in den Booten und warfen Netze aus. Andere hielten lange Speere in den Händen und holten unterarmlange, zappelnde Fische aus dem Wasser. Ab und zu winkten sie zum Schiff hinüber und riefen unverständliche Worte.
„Ob sie uns was mitteilen wollen?“ rätselte Roger Brighton.
Hasard zuckte mit den Schultern. Er beobachtete die Fischer, aber sie kümmerten sich nur um ihre Boote und ihren Fang. Wenn einer von ihnen in eine bestimmte Richtung gezeigt hätte, würde er es bemerkt haben. Aber die Fischer schienen die „Ghost“ nicht gesehen zu haben.
„Glaube ich nicht“, murmelte der Seewolf, aber er ließ die wenigen Boote und braunhäutigen Männer nicht aus seinen Augen. „Warum sollten sie uns auch helfen?“
Es war für alle so gut wie unvorstellbar, daß Francis Ruthland die Sprache dieser Fischer beherrschte, ebensowenig wie die Seewölfe, von den wenigen Worten abgesehen, die Doglee den Zwillingen beigebracht hatte.
Wieder verschwand eine Ausbuchtung der Küste hinter dem Heck der Schebecke. Vor einem hügeligen Abschnitt an der Steuerbordküste erstreckte sich der trockengefallene Meeresboden, zwischen dessen Pfützen Krabben und Wasservögel zu sehen waren.
„Wir suchen weiter!“
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