André Gide
Saga
Die Pastoralsymphonie Coverbild/Illustration: Sutterstock Copyright © 1919, 2020 André Gide und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726540031
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
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Erstes Heft
10. Februar 189. . .
Der Schnee, der seit drei Tagen unaufhörlich herniederfällt, versperrt die Straßen. Ich konnte mich nicht nach R. . . begeben, wo ich seit fünfzehn Jahren zweimal monatlich den Gottesdienst abzuhalten pflege. Heute morgen waren nicht mehr als dreißig Gläubige in der Kapelle von La Brévine versammelt.
Ich will die Mußestunden, die mir diese klösterliche Abgeschlossenheit erzwungenermaßen verschafft, nutzbringend auf das Vergangene verwenden und erzählen, wie es dazu kam, daß ich mich Gertruds annahm.
Ich habe mir vorgenommen, hier alles niederzuschreiben, was die Bildung und das Wachstum jener frommen Seele angeht, die ich, so scheint mir, nur darum ihrer Nacht entrissen habe, daß sie Gott anbete und ihn liebe. Gesegnet sei der Herr um dieser Aufgabe willen, die er mir verliehen hat.
Vor zweieinhalb Jahren, als ich gerade aus La Chaux-de-Fonds wieder heraufstieg, holte mich in aller Eile ein unbekanntes kleines Mädchen ein, um mich sieben Kilometer weiter zu einer armen Alten zu führen, die im Sterben lag. Das Pferd war noch nicht ausgespannt; ich nahm das Kind zu mir auf den Wagen, nachdem ich mich mit einer Laterne versehen hatte, da ich vor Anbruch der Nacht nicht glaubte zurück sein zu können.
Ich vermeinte die ganze Umgegend der Gemeinde auf eine bewunderungswürdige Weise zu kennen; aber nachdem wir das Gehöft von La Saudraie überholt hatten, schlug das Kind einen Weg ein, wo ich mich bis dahin noch nie hingewagt hatte. Gleichwohl erkannte ich zwei Kilometer weiter zu unserer Linken einen kleinen, geheimnisvollen See wieder, zu dem ich als junger Mensch mitunter Schlittschuhlaufen gegangen war. Seit fünfzehn Jahren hatte ich ihn nicht wiedergesehen, denn keine Seelsorgerpflicht rief mich jemals dahin; ich hätte nicht mehr zu sagen vermocht, wo er gelegen war, und hatte so sehr aufgehört an ihn zu denken, daß ich, als ich ihn plötzlich im übergoldeten Zauber des Abends wiedererkannte, ihn vormals nur im Traume gesehen zu haben vermeinte.
Der Weg folgte einem Wasserlauf, der dem See entfloß, durchschnitt den äußersten Rand des Waldes und führte dann an einem Moor entlang. Ich war gewiß zum erstenmal in dieser Gegend.
Die Sonne versank, und wir gingen bereits eine geraume Weile in der Dämmerung, als meine junge Führerin mit dem Finger auf eine Hütte am Abhang des Hügels wies, die man für unbewohnt gehalten hätte, wäre ihr nicht eine dünne Rauchsäule entstiegen, die, erst bläulich in der Dämmerung, gelblichblond mit dem Gold des Himmels verschmolz. Ich band das Pferd an einen Apfelbaum, dann folgte ich dem Kind in die dunkle Stube, wo die Alte soeben verschieden war.
Ich war wie benommen von dem Ernst der Landschaft und dem feierlichen Schweigen der Stunde. Eine noch junge Frau lag vor dem Bett auf den Knien. Das Kind, das ich für die Enkelin der Verblichenen gehalten hatte, das aber nur ihre Magd gewesen war, zündete eine rauchige Kerze an und verharrte unbeweglich am Fußende des Bettes. Auf dem langen Weg hatte ich versucht, es in ein Gespräch zu ziehen, ohne ihm mehr als ein paar Silben entlocken zu können.
Die Kniende erhob sich. Es war keine Verwandte, wie ich zuerst angenommen hatte, sondern einfach eine Frau aus der Nachbarschaft, von der Magd herbeigeholt, als diese die Kräfte ihrer Herrin versiegen sah, und die sich erboten hatte, bei dem Leichnam Wache zu halten. Sie sagte mir, die Alte sei schmerzlos verschieden. Wir kamen überein, was zur Vorbereitung der Beerdigung und der Trauerzeremonie zu geschehen habe. Wie so oft schon in dieser abgeschiedenen Gegend, blieb alles meiner eigenen Entscheidung überlassen. Ich muß gestehen, daß es mich einigermaßen beunruhigte, das Haus, so ärmlich es auch aussah, der alleinigen Aufsicht dieser Nachbarin und der Magd, einem Kinde noch, überantworten zu müssen. Doch es war ganz unwahrscheinlich, daß in einem Winkel dieser elenden Behausung irgendein Schatz verborgen läge . . . Und was konnte ich auch tun? Ich erkundigte mich indessen, ob die Alte nicht einen Erben hinterlasse.
Da nahm die Nachbarfrau die Kerze, leuchtete damit in eine Ecke des Herdes, und ich vermochte ein zweifelhaftes Wesen zu erkennen, hingekauert in der Feuerstelle, wo es zu schlafen schien. Eine dichte Haarmasse verbarg fast vollständig sein Gesicht.
„Dieses blinde Mädchen: eine Nichte nach den Worten der Magd; daraus besteht scheinbar die ganze Familie. Man muß sie ins Waisenhaus bringen; sonst wüßte ich nicht, was aus ihr werden soll.“
Es tat mir weh zu hören, wie ihr Geschick so ganz in ihrer Gegenwart entschieden wurde, und ich fürchtete, daß diese brutalen Worte sie schmerzlich berühren könnten.
„Wecken Sie sie nicht auf“, sagte ich leise, um die Nachbarin zu veranlassen, wenigstens ihre Stimme zu dämpfen.
„Oh, ich glaube nicht, daß sie schläft; aber sie ist idiotisch; sie spricht nicht und versteht nichts von dem, was man sagt. Seit heute früh, daß ich hier bin, hat sie sich kaum geregt. Zuerst hielt ich sie für taub; die Magd bestreitet das und behauptet, daß die Alte, die selber taub war, niemals das Wort an sie gerichtet habe, so wenig wie an jemand anders; seit langem habe sie den Mund nur zum Essen und Trinken geöffnet.“
„Wie alt ist sie denn?“
„So um die fünfzehn, nehme ich an; im übrigen weiß ich davon wenig mehr als Sie . . .“
Es kam mir nicht sofort in den Sinn, mich selber dieser armen Verlassenen anzunehmen; aber nachdem ich gebetet hatte, oder vielmehr während des Gebetes, das ich, zwischen den am Kopfende des Bettes knienden Frauen selber hingekniet, zum Himmel emporschickte, wollte es mir auf einmal scheinen, daß Gott mir eine Art hoher Pflicht auf den Weg sandte, der ich nicht ohne einige Feigheit entraten könne. Als ich mich wieder aufrichtete, war mein Entschluß gefaßt, das Kind noch am selben Abend mitzunehmen, obgleich ich noch keineswegs im klaren darüber war, was ich wohl in der Folge mit ihm täte, noch wessen Händen ich es anvertraute. Ich blieb noch eine kurze Weile und betrachtete das entschlafene Antlitz der Alten, deren gefalteter, eingesunkener Mund zusammengeschnürt schien wie die Börse eines Geizigen, die kein Teilchen ihres Inhalts entschlüpfen läßt. Dann wandte ich mich der Blinden zu und unterrichtete die Nachbarin von meinem Entschluß.
„Es ist schon besser, sie ist morgen nicht mehr hier, wenn man den Leichnam holen kommt“, sagte sie. Und das war alles.
Vieles ginge leichter vonstatten, ohne die chimärischen Einwände, in denen sich die Menschen bisweilen erfinderisch gefallen. Wie oft werden wir nicht von Kind auf daran gehindert, dies oder jenes zu tun, was wir gerne täten, nur weil wir immer wieder um uns sagen hören: er bringt es ja doch nicht fertig . . .
Die Blinde ließ sich wegführen wie eine willenlose Masse. Ihre Gesichtszüge waren regelmäßig, beinahe schön, doch vollkommen ausdrucksleer. Ich hatte eine Decke von dem Strohsack genommen, auf dem sie in einem Winkel unter der Treppe, die im Innern zum Boden hinaufführte, für gewöhnlich ruhen mochte.
Die Nachbarin hatte sich gefällig gezeigt und mir geholfen, die Kleine sorgfältig einzupacken, denn die Nacht war hell und frisch; nachdem ich die Laterne des Wägelchens angezündet hatte, war ich davongefahren, dieses seelenlose Fleischbündel mitführend, das sich an mich schmiegte und dessen dumpfe Wärme allein mich fühlen ließ, daß Leben in ihm war. Den ganzen Weg entlang dachte ich: schläft sie? und welch dunklen Schlaf . . . und inwiefern ist wohl ihr Wachsein vom Schlafe unterschieden? Im undurchsichtigen Wohnsitz dieses Körpers, gleichsam eingemauert, wartet ohne Zweifel eine Seele, daß ein Strahl deiner Gnade, o Herr, sie endlich berühre. Wirst Du mir verstatten, diese schreckliche Nacht kraft meiner Liebe vielleicht von ihr zu nehmen?
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