Impressum
© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
ISBN: 978-3-95439-578-1
Internet: www.vpm.deund E-Mail: info@vpm.de
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Antos, der Grieche, hatte seinen Lieblingsplatz auf dem Inselberg aufgesucht, von dem aus er Abend für Abend den Untergang der Sonne zu beobachten pflegte.
Umständlich ließ er sich auf seinem Stammplatz, einem flachen Felsen, nieder, stützte die Hände auf die Knie und blickte aufs Wasser hinaus, so fasziniert und erwartungsvoll wie immer, in etwa so, als würde dort draußen gleich Poseidon, der Gott der Meere, auftauchen, um ihm die seit langem ersehnte Botschaft zu übermitteln.
Mit wichtiger Miene griff Antos zur Lyra, seinem geliebten Instrument. Sie war nicht harfenähnlich konstruiert wie in anderen Ländern, sondern sah einer winzigen Laute ähnlich. Antos strich die drei Saiten mit dem glockenbehängten Bogen und spielte eine uralte Melodie, die es auf Rhodos schon vor der Zeit der Byzantiner gegeben haben sollte.
Es war eine Tavla, eine traurige Weise, deren dünner Klang sich schon an den Berghängen verlor und vom Wind nicht auf die See hinausgetragen wurde.
Poseidon, so dachte Antos mit Wehmut im Herzen, wird mir schon antworten.
Seit Jahren hoffte er nun auf diese Botschaft, die nicht eintraf, denn dort unten, auf dem Grund des tiefen Wassers, ruhten seine Frau und seine beiden Kinder, sein größter Schatz im Leben, den er für immer verloren hatte.
Wie viele Jahre der Tag des Unglücks nun schon zurücklag? Antos wußte es nicht, er hatte nicht mitgezählt. Was bedeuteten ihm schon Wochen, Monate, Jahre? Die Zeit war ein Spiel von Sonne und Mond, Helligkeit und Finsternis, ein beständiges Auf und Ab, das auf seine Gedankenwelt jedoch keinerlei Einfluß hatte.
Damals, als alles noch seine Richtigkeit gehabt hatte und die Welt für Antos in Ordnung gewesen war – damals hatte er sich als Fischer sein Brot verdient. Eines Tages hatte er dem Drängen seiner Frau und seiner beiden Söhne nachgegeben und sie mit hinausgenommen aufs Meer.
Doch zu spät hatte er das Heraufziehen des Sturmes bemerkt, zu spät hatte er die Rückkehr zur Bucht angetreten. Das Boot war gekentert, seine Familie ertrunken. Weder die Frau noch die Kinder, sechs und sieben Jahre alt, hatten schwimmen können.
Antos war im Wasser bewußtlos geworden, als die Bordwand des Bootes seinen Kopf traf, doch die Wellen spülten seinen Körper an den Strand, und er wurde von Männern des Dorfes Pigadia gefunden. Mit vereinten Anstrengungen erweckten sie ihn wieder zum Leben.
Die Götter schienen ein Wunder vollbracht zu haben, denn eigentlich hätte auch Antos ertrinken müssen. Doch ihm selbst wäre es lieber gewesen, wenn Poseidon auch ihn zu sich geholt hätte, in das Reich der blauen Dunkelheit und der Fischschwärme, des ewigen Schweigens und des Friedens.
Pigadia, sein Dorf, seine Heimat, hatte ihn wieder aufgenommen und behütet, aber Antos wurde von jenem Tag an ein anderer Mensch. Er wagte sich nicht mehr auf die See hinaus. Er taugte auch nicht zur Landarbeit, nicht einmal zum Pflükken der Oliven.
Nur selten sprach er, und wenn, dann sagte er merkwürdige Dinge.
Die Männer und die Frauen im Dorf sagten, er sei nicht mehr ganz richtig im Kopf seit jenem furchtbaren Tag. Aber Antos lächelte nur bescheiden in sich hinein, wenn er sie leise reden hörte und sah, wie sie sich untereinander anstießen und auf ihn deuteten.
Oh, er verstand jedes ihrer Worte und wußte genau, wie sie über ihn urteilten. Doch war ihm nicht daran gelegen, sich zu rechtfertigen, sich zu verteidigen, vor sie hinzutreten und lange Reden zu halten.
Unwichtig, dachte er, völlig unwichtig.
Nur die Botschaft galt, die Botschaft mußte erfolgen, von seiner Frau und seinen Söhnen, die ihn irgendwann zu sich riefen.
Antos strich heftiger mit dem Bogen über die Saiten der Lyra.
Mitleid? Nein, das Mitleid der Leute im Dorf wollte er nicht. Warum sollte man ihn auch bemitleiden? Er war doch froh, daß er bald Rhodos und Pigadia verlassen durfte, um in die Tiefen zu steigen. Nur darauf wartete er.
Bis es soweit war, aß, trank und schlief er, ohne recht zu bemerken, was er eigentlich tat. Er spielte manchmal mit den Kindern auf dem Dorfplatz und zeigte ihnen, wie man die Lyra strich.
Manchmal sagte er zu ihnen: „Ich bin schon tot. Ihr wißt es nur noch nicht.“ Dann riefen die Mütter die Kinder in die Häuser, um ihnen rasch ein Stück Brot mit Feigenmarmelade in die Hand zu drücken. Immer dann. Seltsam, dachte Antos.
Poseidon, so sagte er sich im stillen, wird seine Boten schicken. Schiffe werden auftauchen, schlanke Schiffe mit dreieckigen Segeln.
Hin und her bewegte er den Glokkenbogen, seine Finger bearbeiteten das Griffbrett. Schrill wurde der Klang der Lyra, und der stürmische Wind aus Südosten stimmte mit in das Lied ein.
Höher stiegen die Wellen der See, dunkelgrau wurde das Wasser, ehe die Sonne als Glutball hinter dem Horizont versank. Es würde einen Sturm geben, so wie damals, als das Fischerboot wie ein Spielzeug gekentert war.
Der Wind würde über Rhodos hinwegheulen, die Brecher gegen die Ufersteine donnern. Heute nacht schlossen sich die Frauen mit ihren Kindern in den kleinen Häusern von Pigadia ein und beteten zu den Göttern, daß nichts geschehen möge. So mancher Mann, der draußen in den Olivenhainen übernachtete, weil die Zeit der Ernte gekommen war, würde auf den schmalen Pfaden ins Dorf zurückkehren.
Es sollte eine unruhige Nacht werden, voll Angst und dumpfer Fragen, auf die es keine Antworten gab.
Antos brach die Melodie abrupt ab. Er erhob sich, ließ die Lyra und den Bogen sinken und blickte aus schmalen Augen nach Osten.
„Danke, großer Poseidon“, sagte er ergriffen. „Du hast mein Rufen erhört. Du schickst deine Boten, damit sie mich abholen und zu den Meinen bringen. Ich danke dir.“
Schiffe segelten heran – zwei schlanke Schiffe mit dreieckigen Segeln. Sie hielten direkt auf die Bucht unterhalb von Pigadia zu.
Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, hielt in der Kapitänskammer der „Isabella VIII.“ eine kurze Lagebesprechung mit Ben Brighton, seinem Ersten Offizier und Bootsmann, mit Ferris Tucker, seinem Schiffszimmermann, mit Big Old Shane, dem ehemaligen Schmied und Waffenmeister von Arwenack-Castle, mit Smoky, dem Decksältesten und den beiden O’Flynns ab.
Er deutete mit dem Finger auf die Karte, die er auf seinem Pult ausgebreitet hatte. Die Männer traten in dem schwankenden Schiffsraum näher und beugten sich etwas vor, um in dem Gewirr von Inseln zwischen Griechenland und der Türkei etwas Konkretes erkennen zu können.
Hasard wies auf eine von Norden nach Süden lang ausgestreckte Insel, die genau auf halber Strecke zwischen Kreta und Rhodos lag.
„Dies ist Karpathos“, erklärte er. „Nach meinen Berechnungen befinden wir uns rund zwanzig Meilen querab ihres südlichen Ufers, und zwar hier.“
Er bestimmte mit der Fingerkuppe einen Punkt, der südöstlich der Insel im Mittelmeer lag.
„Ich habe unsere Position auch überprüft“, sagte Dan O’Flynn. „Sie stimmt mit deiner Berechnung völlig überein.“
„Also, wir haben die Wahl. Entweder laufen wir Karpathos an, um dort vor dem drohenden Sturm Schutz zu suchen, oder aber wir segeln bis nach Rhodos weiter, um dort eine Bucht zu suchen.“
„Andere Inseln gibt es in unserer nächsten Umgebung nicht?“ fragte Shane.
„Das siehst du doch“, brummte der alte O’Flynn. „Die kleineren Inseln der Sporaden, Kykladen und Dodekanes liegen alle weiter nördlich.“
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