Impressum
© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
ISBN: 978-3-95439-517-0
Internet: www.vpm.deund E-Mail: info@vpm.de
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Alewa sah das Schiff und begann zu weinen. Die Tränen liefen ihr über die Wangen und befeuchteten fast die ganze Fläche ihres sanften braunhäutigen Gesichts. Sie kämpfte nicht dagegen an, sondern ließ ihren Gefühlen freien Lauf. Sie hatte das große, stolze Schiff mit den drei hohen Masten und den prallen, gelblich-weiß gelohten Segeln daran wiedererkannt.
Eigentlich hatte Alewa, das Polynesiermädchen, in ihr zerstörtes Dorf hinunterspähen und nach den Männern Ausschau halten wollen, vor denen sie sich so fürchtete, denn sie hatte sich überlegt, daß sie – falls die Kerle keinen Wächter bei den eingestürzten Pfahlbauten zurückgelassen hatten – wenigstens versuchen konnte, hinunterzusteigen und sich ein Boot zu nehmen. Es bestand immerhin die Möglichkeit, daß nicht alle Auslegerboote durch Tsunami, die Riesenwelle, zerschmettert worden waren. An diese Hoffnung knüpfte Alewa alle ihre Pläne.
Flucht! Darin lag die einzige Rettung. Die Insel war kein Paradies mehr, sie war zur Hölle geworden, zur Verdammnis im wahrsten Sinne des Wortes.
Jetzt aber war das Schiff hinter einer weiter südlich gelegenen, bewaldeten Landzunge aufgetaucht, und Alewas Herz begann vor jäher Freude und Überraschung heftiger zu schlagen. Es erschien ihr als ein Wunder, daß die Galeone plötzlich da war, so als wären nur Tage vergangen, seit sie davongesegelt war. Ihr Kapitän, die Besatzung – ja, waren diese Männer denn wirklich gekommen, um hier zu landen und nachzusehen, ob die Freunde von damals noch lebten?
Das war zu schön, um wahr zu sein.
„Pele“, murmelte Alewa. Ein Schluchzen erstickte ihre Stimme, und sie dachte: Pele, Pele, allmächtige Göttin der Feuerseen, du hast mich also doch erhört und dafür gesorgt, daß sie uns noch einmal besuchen, einmal, bevor wir alle sterben müssen!
Der Platz, auf dem Alewa lag und zur Küste hinunterblickte, befand sich hoch über der geschwungenen, langgestreckten Bucht, auf die sich der Bugspriet der Galeone jetzt richtete. Der Platz war von niedrigem Gebüsch gesäumt. Die Sträucher boten Alewa Deckung. Ein üppig bewachsenes, terrassenartiges Plateau, von Menschenhand geschaffen, und darüber und darunter schlossen sich weitere solcher Stufen an, die dem ganzen Hang ein treppenförmiges Aussehen verliehen. Alle diese Stufen waren auf Anraten von Thomas Federmann hin von den Insulanern eingerichtet worden. Hier hatten sie Obst und Gemüse angebaut und geerntet, und sie waren mit ihrem Werk zufrieden gewesen. Ein glückliches Leben hatten sie geführt, und es hatte ihnen an nichts gemangelt – bis zu dem Tag, an dem sie nach langer Zeit wieder überfallen worden waren.
„‚Isabella‘“, flüsterte Alewa, „komm zu mir. Pele, ich danke dir. Es wird alles wieder gut, ja, alles wieder gut.“
Die Galeone erhielt den Wind aus Osten, also ablandig, und sie hatte jetzt hart angeluvt und segelte über Backbordbug liegend mit Steuerbordhalsen auf die Inselbucht zu. Mit jedem Yard, den sie sich näherte, wuchs Alewas Hoffnung.
„‚Isabella‘“, wiederholte sie leise. „Seewolf …“
Dann vernahm sie ein Geräusch hinter ihrem Rücken und fuhr entsetzt herum.
Sie sah die Männer sofort. Es waren drei, und sie hatten sich so auf die Terrasse verteilt, daß sie, Alewa, keine Chance mehr zur Flucht hatte.
Grinsend schoben sie sich auf sie zu, überquerten schweren Schrittes die so sorgfältig angelegten Felder und traten die Pflanzen süßer Kartoffeln und grüne Beerensträucher nieder.
„Los, schnapp sie dir, Richard“, sagte der, der sich links befand. Er war ein großer, bärenstarker Kerl mit einem bunten Tuch um den Kopf und einem Ring im linken Ohr. Sein Hemd hatte er über dem Bauchnabel zusammengeknotet. Seine Beinkleider waren unten ausgefranst, er trug keine Stiefel. Barfuß marschierte er auf das Mädchen zu, das sich allmählich erhob. „Voilà“, sagte er rauh. „Hab ich euch nicht gesagt, daß hier jemand gesprochen hat? Ihr wolltet mir ja nicht glauben, aber jetzt seht ihr wohl ein, daß der alte Louis nicht spinnt, sondern ganz ausgezeichnete Ohren hat, oder? He, Richard, du bist am nächsten an ihr dran, pack sie!“
„Du überläßt sie also mir?“ fragte Richard, ein untersetzter, breit grinsender Kerl, der in der Mitte des Trios ging. „Hast du das gehört, Marcel?“
Marcel näherte sich von rechts her dem verstörten, zitternden Mädchen Alewa und entgegnete: „Du mußt das nicht falsch auslegen. Natürlich knöpfen wir sie uns alle drei vor. Dreimal, das ist das richtige Maß, ich schwör’s dir, Mann.“
Sie lachten gleichzeitig.
Alewa wich vor ihnen zurück und hob abwehrend die Hände. Sie befand sich jetzt mitten in dem flachen Gebüsch, am Rand der Terrasse. Sie wußte, daß sie nur noch den ziemlich steil abfallenden Hang hinunterspringen konnte, um sich vor ihnen in Sicherheit zu bringen. Dabei konnte sie sich die Knochen im Leib brechen, aber das war ihr lieber, als von den wilden Kerlen gefaßt zu werden. Sie verstand ihre näselnde Sprache nur ansatzweise, aber sie wußte trotzdem genau, was ihr Ansinnen war.
Sie tat noch einen Schritt zurück und war über den Abbruch des Plateaus hinweg.
Der Seewolf, Siri-Tong und die Zwillinge Philip und Hasard standen an der vorderen Schmuckbalustrade der Back, die den Querabschluß zum Galion hin bildete, und um sie herum hatte sich fast die gesamte Crew der „Isabella VIII.“ versammelt – ausgenommen natürlich Blacky, der zur Stunde als Rudergänger fungierte, Ben Brighton, der Blacky auf dem Quarterdeck Gesellschaft leistete, sowie Matt Davies, Jeff Bowie, Bob Grey und Luke Morgan, die von der Kuhl aus die erforderlichen Segelmanöver durchführten. Bill, der Moses, hockte als Ausguck im Großmars, und der Kutscher war eben noch in der Kombüse damit beschäftigt, die Holzkohlenfeuer kräftig anzufachen und die Suppe für die Mittagsmahlzeit zum Brodeln zu bringen. Aber von ihnen abgesehen waren alle auf dem Vordeck erschienen, um sich das Panorama anzusehen, das sich an diesem sonnigen Vormittag dem Auge bot.
Selbst Arwenack, der Schimpanse, kauerte an der Backbordseite auf der Handleiste der hölzernen Balustrade und hielt sich mit einer Pfote an den Fockwanten fest. Leise schmatzend kaute er auf irgend etwas herum und hielt seinen Blick so interessiert auf die große Insel gerichtet, als könne er sich wirklich daran erinnern, daß sie schon einmal hier gewesen waren.
Sir John, der karmesinrote Aracanga, hockte auf der linken Schulter seines allgewaltigen Herrn Edwin Carberry und knabberte zärtlich an dessen Ohrläppchen herum – aber nur so lange, bis es dem Profos zu bunt wurde.
Carberry hob mit einem unterdrückten Fluch die rechte Hand und schickte sich an, den frechen Papagei von seiner Schulter zu scheuchen. Sir John reagierte jedoch gedankenschnell, flatterte auf und schwang elegant bis zu Bill in den Großmars empor. „Rübenschweine, Affenärsche!“ zeterte er aufgebracht. Dann ließ er sich auf der Segeltuchumrandung der Plattform nieder und spähte mit dem Moses zusammen aufmerksam in die Bucht, die sich vor ihren Augen öffnete.
Bill beobachtete durch den Kieker und sah die ganze Landschaft wie zum Greifen nah vor sich, auch die schneegekrönten Zwillingsgipfel der Insel, die seines Wissens über viertausend Yards hoch waren.
Bill ließ seinen Blick wieder tiefer gleiten und über den Strand der Bucht wandern, bis hin zu dem zerstörten Pfahlbautendorf und den Booten, die wie von einer gigantischen Macht bis ins Dickicht jenseits der Uferzone geschleudert worden waren.
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