Impressum
© 1976/2015 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
ISBN: 978-3-95439-468-5
Internet: www.vpm.deund E-Mail: info@vpm.de
Kapitel 1.
Kapitel 2.
Kapitel 3.
Kapitel 4.
Kapitel 5.
Kapitel 6.
Kapitel 7.
Kapitel 8.
Kapitel 9.
Kapitel 10.
Es waren erbarmungswürdige Gestalten, die der Ausguck im Großmars der Viermast-Galeone „Candia“ an diesem milden, sonnigen Junimorgen 1587 in einem Boot an der südlichen Kimm erblickte. Eben erst waren sie aufgetaucht, so unvermittelt, als hätte es sie vorher nie gegeben, aber schon vermochte der Ausguck auf seinem luftigen Posten die Einzelheiten ihrer Gesichter auseinanderzuhalten. Die Luft war klar, der Wind aus Nordwesten hatte die milchigen Schleier fortgekehrt, die im Morgengrauen über den Atlantik gezogen waren.
Deutlich hoben sich die Männer in der Jolle durch die kreisrunde Optik des Spektivs vom Hintergrund ab. Sie hockten zusammengesunken auf den Duchten und schienen von den Seglern, die sich auf sie zubewegten, überhaupt keine Notiz zu nehmen.
Und doch mußten sie sie bemerkt haben, denn wenn der Ausguck der „Candia“ das kleine Boot gesichtet hatte, dann mußten die Schiffbrüchigen die Galeone und die Karavelle des einst so stolzen Verbandes allemal entdeckt haben – auch ohne Fernrohr. Die Sonne stand noch als glutiger Feuerball im Osten über dem Festland und konnte keinen Mann, der nach Norden Ausschau hielt, blenden. Ja, auf diese Distanz mußten die Bänner im Boot ihre Retter mit bloßem Auge sehen können.
„Senor Comandante!“ schrie der Ausguck der „Candia“ aufs Deck hinab. „Treibendes Boot voraus! Wir segeln genau darauf zu!“
Im selben Augenblick ließ auch der Ausguck der spanischen Kriegskaravelle „Santa Angela“ einen Ruf vernehmen. Auf beiden Schiffen liefen Offiziere, Decksleute und Soldaten nach vorn und erklommen das Vorkastell, um die Entdeckung ebenfalls in Augenschein zu nehmen.
Erst jetzt hoben einige der entkräfteten, zerlumpten Gestalten in dem Boot die Hände und winkten den beiden Schiffen träge zu. Sie fanden augenscheinlich nur noch einen winzigen Rest Energie, um Zeichen zu geben und heisere Schreie auszustoßen – das Pullen hatten sie längst aufgegeben. Das Segel, das nur noch in Fetzen an dem niedrigen Mast des Bootes hing, konnte ihr Fahrzeug auch nicht mehr voranbewegen, so daß sie den Meeresströmungen ausgeliefert waren und mit unbestimmtem Kurs an der portugiesischen Küste entlangtrieben.
Die Erschöpfung und die Verzweiflung hatten diese Männer zu willenlosen Marionetten in der unendlich wirkenden Weite der Wasserwüste werden lassen.
Sie waren nervlich zerrüttet und körperlich nahezu zugrunde gerichtet. Die Geschehnisse der Sturmnacht hatten sie nachhaltig gezeichnet, Hunger und Durst hatten ein Weiteres bewirkt. Sie hatten sich hingesetzt, hatten vor sich hingestarrt, kein Wort mehr gesprochen und auf den Tod gewartet.
Lucio do Velho stand jetzt an der vorderen Schmuckbalustrade der Back der „Candia“ und spähte durch sein Spektiv zu den Schiffbrüchigen hinüber. Zu seinen Füßen erstreckte sich die Galionsplattform der großen Galeone, darunter rauschte die Bugsee. Der frische raume Wind blähte die Blinde unter dem Bugspriet, wie er die gesamte Besegelung der „Candia“ wölbte und dem Schiff beachtliche Fahrt verlieh. Sie war kein altes Schiff, diese Viermast-Galeone, sie war vielmehr erst knapp mehr als zwei Jahre alt und in ihrer Bauweise, Manövrierfähigkeit und Geschwindigkeit einer der modernsten Kriegssegler, den die Armada zu bieten hatte.
Respektvollen Abstand hielten die Offiziere der „Candia“ von ihrem Kommandanten – ganz zu schweigen von dem „gemeinen Schiffsvolk“, das auf diesem wie allen anderen Kriegsschiffen des Vereinten Königreiches Spanien-Portugal aus Seeleuten und Soldaten bestand. Keiner traute sich zu nah an diesen äußerlich nicht sonderlich auffälligen, seinen Charaktereigenschaften nach jedoch zu fürchtenden Mann heran.
Keiner, außer Ignazio. Der bullige Mann aus Porto war auch diesmal vom Achterdeck aus seinem Kapitän nachgeeilt und verharrte nun neben ihm, um ihm mit „Rat und Tat“ zur Seite zu sein. Keiner ertrug den beißenden Spott und die Ungerechtigkeiten des Lucio do Velho so geduldig wie dieser Ignazio, keiner verfügte über ein so dickes Fell wie er. Wie Ignazio es fertigbrachte, unter do Velhos Fuchtel zu existieren, da doch unzählige gestandene Kerle an der Unberechenbarkeit des Kommandanten zerbrochen waren – dies war sein Geheimnis.
Wahrscheinlich wußte er es selbst nicht genau, warum er do Velho in solcher Treue verbunden war, warum er noch nicht desertiert oder wegen Insubordination bestraft war. Mit Leichtigkeit hätte do Velho diesem recht einfältigen Bootsmann der „Candia“ etwas anhängen können, wie es seiner überheblichen, unduldsamen Wesensart entsprach. Do Velho drohte es auch immer wieder an, daß er Ignazio degradieren und von seinem Schiff weisen würde, aber letztlich setzte er es dann doch nicht in die Tat um. Im Gegensatz zu dem Bootsmann war er sich dabei über die Gründe seines Handelns voll bewußt.
Ignazio hatte ihm, do Velho, schon zweimal das Leben gerettet. Einmal bei Formosa und einmal in Südafrika, im Land der Buschmänner. So absurd es klang: Solange Ignazio an do Velhos Seite weilte, schien der Tod immer wieder an ihnen vorbeizuschlüpfen und der Höllenfürst sie zu verachten.
Dies war ausschlaggebend für Lucio do Velho, sonst hätte er sich des geistig ganz und gar nicht beschlagenen Mannes längst entledigt.
Do Velhos Gesicht war ausdruckslos und undurchdringlich. Ohne sichtliche Gemütsregung betrachtete er die Männer im Boot.
„Senor!“ rief der Ausguck. „Es sind die Männer der ‚Extremadura‘, ich habe sie erkannt!“
„Ja“, sagte do Velho. „Ungefähr ein Drittel der Besatzung, und der Kapitän ist nicht mit dabei.“
„Vielleicht stoßen wir noch auf das zweite Boot der Karavelle“, erwiderte Ignazio.
„Das glaubst du wirklich?“
„Ich hoffe es, Senor.“
Do Velho würdigte seinen Bootsmann nicht einmal eines Seitenblicks, er schaute weiter durch sein Spektiv voraus.
„Ich habe das untrügliche Gefühl, daß wir die einzigen Überlebenden des Untergangs der ‚Extremadura‘ vor uns haben“, sagte er. „Gäbe es auch das zweite Beiboot noch, dann hätten die Insassen versucht, den Kontakt mit den Kameraden nicht zu verlieren. Aber dir, Ignazio, fehlt natürlich der Scharfsinn, um eine solche Feststellung zu treffen.“
Der Mann aus Porto entgegnete diesmal nichts. Was hätte er auch sagen sollen? Daß er nur versuchte, die Situation zu beschönigen, da doch offensichtlich war, daß sie einen Fehler begangen hatten, als sie dem Sturm getrotzt hatten, statt sich unter Land oder in einer Bucht vor dem Toben des Wetters zu schützen? Ein paar ehrliche Worte hätten in diesem Fall garantiert bewirkt, daß do Velho die Beherrschung verloren hätte. Den Kommandanten durfte keiner kritisieren, auch wenn er seine Untergebenen mal nach ihrer Meinung fragte.
„Sieh sie dir an“, sagte do Velho. „Eigentlich sollten sie hocherfreut sein, daß wir umgekehrt sind und sie gefunden haben. Aber sie können nicht einmal richtig winken, und ihre Gesichter gleichen Totenmasken. Ein undankbares Volk ist das.“
„Ja“, antwortete Ignazio. „Eigentlich sind sie es gar nicht wert, daß man sie auffischt, Senor.“
„Ach? Sollen wir also an ihnen vorbeisegeln und sie ihrem Schicksal überlassen?“ fragte der Kommandant lauernd.
„Aber nein, Senor!“
„Siehst du“, sagte do Velho voll Verachtung. „Du solltest es dir wirklich abgewöhnen, mir nach dem Mund zu reden. Ich kriege es ja doch heraus, daß du gegen deine Überzeugung sprichst. Du bedauerst diese traurigen Figuren doch noch, gib es ruhig zu.“
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