Der bärtige Zimmermann mit dem schmalen Gesicht seufzte leise und drehte sich auf die andere Seite. An den gleichmäßigen Atemzügen neben sich merkte er, daß Ann wieder eingeschlafen war.
Er selbst konnte nicht einschlafen. Der entsetzliche Traum hatte ihn zutiefst aufgewühlt und ließ ihn nicht ruhen. Immer wieder sah er die „Discoverer“ auf dem Meeresgrund zerschellen.
Er hatte sich diese Reise über den Atlantik in die Neue Welt anders vorgestellt. Es war ihnen zwar gesagt worden, daß es eine sehr beschwerliche Fahrt werden würde, aber keiner der Siedler hatte geglaubt, daß ein Meer wie der Atlantische Ozean so unheimlich groß und riesig sein würde. Es war ein Meer ohne Ende, wie es schien, und auf der ganzen Welt gab es nur noch dieses große Wasser.
Im Mai vor etwa einem Monat waren sie aufgebrochen und hatten tagtäglich etliche Meilen zurückgelegt. Und doch war immer noch nicht auch nur die Andeutung von Land zu erkennen.
Herrgott, dachte er, wie entsetzlich groß und riesig ist denn dieser unvorstellbare Ozean nur?
Dieser eine Monat auf See hatte bereits entscheidend ihrer aller Leben geprägt. Man hatte die ersten Freundschaften geschlossen, sich aber auch Feinde und Neider zugelegt, und man hatte die anfangs zurückhaltend wirkenden Leute der Besatzung näher kennengelernt. Unter ihnen gab es erbärmliche Kreaturen, Halunken und Schlagetots.
Auf der „Discoverer“ schien es ganz besonders schlimm zu sein. Hier hatten drei Halunken und ein unmenschlicher Kapitän das Sagen, und sie nutzten ihre Vormachtstellung gründlich aus. Schikanen wechselten mit Prügeln ab. Die hygienischen Zustände, die am Anfang der Reise schon zu wünschen übrig ließen, wurden mit der Zeit unerträglich. Auf der Galeone „Explorer“ war bereits die Cholera ausgebrochen.
Das alles ließ sich noch einigermaßen ertragen, wenn nicht ein weiterer Faktor an Bord das Leben verschlimmert hätte. Es war der Hunger, und das war eins der mächtigsten Gefühle, das man nicht einfach unterdrücken oder ignorieren konnte.
Zuerst hatte in dieser Hinsicht auch alles bestens geklappt, aber dann war es immer schlechter geworden. Die paar Stücke Großvieh, die sie an Bord hatten, waren längst geschlachtet und verzehrt worden, und auch das Kleinvieh war gefolgt. Was sich jetzt noch an Kleinvieh an Bord befand, gehörte sozusagen zur Standardausrüstung und zum lebenden Inventar. Es war Ungeziefer, Kakerlaken – und Ratten.
Der Zimmermann wälzte sich wieder auf die andere Seite. In der Kammer war mittlerweile Ruhe eingekehrt, bis auf ein paar Schnarcher, die unentwegt in ihren Kojen sägten. Räusperte sich jemand, so brachen die Schnarchtöne abrupt ab und setzten nach einer Weile erneut ein.
Er versuchte einzuschlafen, doch die Angst vor dem Alptraum, der sich mit Sicherheit wieder fortsetzen würde, hielt ihn wach. Da half alles Herumwälzen nicht.
Nach einer Weile stand er leise auf, verließ die Koje und setzte sich an den fest verbolzten Tisch in der Kammer. Eine Weile sah er den Schwingungen der Laterne zu, dann stützte er das Gesicht in beide Hände und dachte nach.
Was würde sie in der Neuen Welt erwarten? Das Paradies, von dem alle redeten, oder ein unbekanntes abweisendes Land? Ob es alles wirklich so war, wie man ihnen versprochen hatte?
Er hörte seinen Magen knurren und blickte zwischen den Fingern hindurch auf eine huschende Bewegung, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Ganz ruhig blieb er sitzen.
Am unteren Rand einer Koje schob sich der Körper einer Ratte hoch. Sie hatte sich offenbar durch die Bodenbretter gefressen, die sich über der Bilge befanden.
Ganz langsam stand Barry Wister auf und näherte sich dem Tier, das anscheinend auf Nahrungssuche war. Er wußte aus eigener Erfahrung, daß Ratten nicht davor zurückschreckten, auch hilflose kleine Kinder anzugreifen, wenn sie Hunger hatten. Und in jener Koje dort drüben lag ein kleines Kind mit seinen Eltern.
Obwohl er sich vorsichtig bewegte, gelangte er nur zwei Schritte weit. Dann hatten ihn die Knopfaugen erspäht. In einer fließenden Bewegung huschte die Ratte nach unten und verschwand in einer Ritze.
Wister stopfte ein paar Lumpen in den Spalt, obwohl er wußte, daß das nicht viel half. Wenn die Biester erst einmal Hunger hatten, dann gaben sie keine Ruhe mehr.
Die Ratte ließ sich jedoch vorerst nicht mehr blicken. Wister fiel auf, daß sie doch ganz gut genährt war. Sie stand gut im Futter und schien eine Quelle zu haben, wo etwas zu holen war, ohne daß man sie bemerkte. Vielleicht hatte sie nur nach einer zusätzlichen Nahrungsquelle Ausschau gehalten.
Sein Magen knurrte wieder überlaut und zog sich zusammen. Das Hungergefühl ließ ihn nicht mehr los. Um es einigermaßen zu unterdrücken ging er zu dem festgelaschten Wasserfaß hinüber, ergriff die hölzerne Kelle und trank einen langen Schluck.
Das Wasser war einen Monat alt und wies den entsprechenden Geschmack auf. Er hatte das Gefühl, aus einer abgestandenen Gipsquelle getrunken zu haben, und er mußte sich beherrschen, damit das Zeug auch unten blieb.
In Gedanken beschäftigte er sich lange Zeit mit der verschwundenen Ratte. Dabei fragte er sich immer wieder, wie ihr Fleisch wohl schmecken würde, wenn es gebraten oder gekocht wurde. Sein ewig hungriger Sohn Jimmy wäre vermutlich mit Freuden über das Fleisch hergefallen. Die Kinder taten dem Zimmermann am meisten leid, denn sie litten noch entsetzlicher unter dem Hunger und begriffen nicht, warum es kaum etwas zu essen gab, da man in London doch so viel Proviant an Bord genommen hatte.
Er selbst wußte, wer an der ganzen Misere schuld war. Das waren drei Halunken an Bord, abgefeimte niederträchtige und ausgekochte Schlitzohren, die zudem von ihrem Kapitän bei ihrem schändlichen Tun gedeckt oder unterstützt wurden. Der Bootsmann Bruce Watts, ein stiernackiger übler Schläger, der Decksälteste Gordon Tibbs, der Kerl mit den langen Affenarmen und der zerdroschenen Plattnase, und schließlich der Koch selbst, ein vollgefressener feister Glatzkopf mit dem Gang einer watschelnden Ente. Kelvin Bascott hieß der Bastard. Er war tückisch, verschlagen und ausgebufft und konnte Kinder auf den Tod nicht ausstehen.
Barry Wister hielt es unter Deck nicht mehr aus. Schlafen konnte er ohnehin nicht mehr, und so wollte er wenigstens ein bißchen frische Nachtluft schöpfen.
Um die anderen nicht zu stören, zog er lautlos das Schott hinter sich zu, als er an Deck stand. Für ein paar Augenblicke ließen sich in der frischen Luft die Sorgen vielleicht vergessen.
Am nächtlichen Himmel blinkten ein paar ferne Sterne. Vom Mond war nur eine schmale Sichel zu sehen. Eine frische Brise wehte ihm ins Gesicht. Er sah, wie sich die Galeone leicht zur Seite neigte, über einen anschwellenden Berg aus Wasser stieg und sanft in das nächste Wellental hinunterglitt. Dort wiederholte sich das ewige Spiel von Wind und Wogen.
Er ging ein paar Schritte zur Kuhl weiter und fand sich unversehens vor der Kombüse wieder. Vielleicht hatte ihn der Hunger ganz automatisch dort hingeführt, obwohl er wußte, daß das Schott besonders nachts immer verrammelt war.
Eine hämische Stimme hinter seinem Rücken ließ ihn zusammenfahren. Er sah nur einen vagen Schatten.
„Na, Mister, du hast wohl die Absicht, ein bißchen zu klauen, was? Aber daraus wird nichts. Wenn du noch einen Schritt weitergehst, dann geht der Kracher in meiner Hand los, und du kriegst ein erbärmliches Begräbnis.“
„Ich habe nicht die Absicht, etwas zu stehlen“, sagte Wister tonlos. „Mich plagen schwere Träume, Sir, und da wollte ich mir einen klaren Kopf verschaffen.“
„Schwere Träume, was?“ höhnte der Schatten. „Du träumst davon, ein bißchen zu räubern. Ich kenne euch Bastarde doch. Ihr seid mit nichts zufrieden. Ihr klaut wie die Raben und seid unberechenbar. Willst du wieder freiwillig unter Deck gehen, oder soll ich dich dem Kapitän melden, Mister?“
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