Hasard war erschienen und beugte sich ebenfalls über den Mann. Er erkannte aus der Nähe eine Tätowierung auf dem Unterarm, aber die war nur zu bemerken, wenn man genau hinsah. Das Blau der Tätowierung war ebenfalls von der Sonne schwarz verbrannt.
Hasard winkte die beiden Holländer, Jan Ranse und Piet Straaten, herbei und zeigte auf den Arm des Mannes.
„Scheint holländisch zu sein. Könnt ihr das entziffern? Es dürfte sich um einen Spruch handeln.“
Die beiden Holländer beugten sich nieder. Hasard nahm dem Mann inzwischen die silberne Kette mit der Münze ab, um auch sie genauer zu betrachten.
Die anderen Seewölfe bildeten einen Halbkreis um den Mann mit den fast verdorrten und ausgemergelten Gliedern.
„Das ist ein Geuse“, sagte Jan Ranse bestimmt. „Und zwar ein Wassergeuse. Er hat sich seinen Kampfruf auf den Arm tätowieren lassen. Lieber ertrunken als gefangen, steht da auf der Haut.“
„Das ist tatsächlich ihr Kampfruf“, sagte der Seewolf nachdenklich. „Das beweisen auch die Schnappsäcke, das Wams, die Holzbecher und diese Münze hier.“
„Der Geusen-Pfennig“, sagte Piet Straaten, als Hasard ihm die Kette mit der Münze reichte.
Hasard nickte und blickte ebenfalls auf die Münze. Auch die anderen konnten sie deutlich sehen.
Auf der Kupfermünze befand sich auf der Vorderseite das Brustbild König Philipps II. mit der Umschrift: „Dem König getreu …“
Auf der Rückseite war das Symbol des Geusen-Bundes geprägt. Es waren zwei ineinanderverschlungene Hände mit einem ledernen Sack und dem zweiten Teil der Losung mit der Prägung: „… bis zum Bettelsack.“
„Graf Brederode, Ritter vom Goldenen Vlies, war der Begründer des Ordens“, sagte Hasard. „Bei ihrer Gründung haben sich die Geusen einen Schnauzbart nach türkischer Art wachsen lassen. Auch an ihrer Kleidung sollte man sie erkennen können, und die haben wir ebenfalls im Boot gefunden. Werden wir den Mann durchbringen, Kutscher?“
Das Gesicht des Kutschers drückte starke Zweifel aus. Fast unmerklich schüttelte er den Kopf.
„Dann müßte schon ein Wunder geschehen, Sir. Der Mann ist total entkräftet und dem Tod näher als dem Leben. In dem Boot waren vermutlich zwei Männer, was aus den beiden Bechern und der Kleidung zu schließen ist. Offenbar ist der eine verdurstet, und er hier hat die Leiche über Bord gegeben.“
„So könnte es gewesen sein.“
Hasard blickte wieder auf den Mann hinunter, als Mac Pellew vorsichtig sein Gesicht mit Wasser genetzte und die Lippen anfeuchtete. Eine Reaktion war jedoch nicht festzustellen. Der Geuse hatte jetzt lediglich die Augen halb geschlossen und wirkte wie ein Toter.
„Lieber Türk als Papist“, sagte der Kutscher. „Das war auch eine ihrer Losungen bei der Gründung des Bundes. Aus diesem Grunde haben sie sich den türkischen Schnauzbart wachsen lassen.“
„Richtig“, sagte Hasard. „Die Losung entstand, als die Regentin von Frankreich, Katharina von Medici, Herzog Alba empfangen hatte, um einen Plan des spanischen Königs zu beraten. Danach sollten alle Ketzer in Frankreich, Spanien und den Niederlanden in einer abgestimmten Aktion schlagartig ermordet werden. Nach dieser Schockierenden Nachricht legten die Geusen dann ihren letzten Schwur ab.“
Sie alle waren über die niederländischen Freiheitskämpfer, die sich Geusen, Waldgeusen oder Wassergeusen nannten, informiert und kannten die Geschichte des Bundes. Mehr als einmal schon hatten sie mit den Wassergeusen zu tun gehabt.
Jetzt befand sich einer von ihnen fast tot an Bord, und es war mehr als fraglich, ob sie ihn durchbringen konnten. Niemand wußte, woher er kam, wie lange er in dem Boot getrieben hatte, oder wohin er wollte. Das Schicksal des unbekannten Geusen lag im Dunkel.
Fest stand nur, daß er Unglaubliches hinter sich hatte und sehr lange Zeit mit dem Boot auf See getrieben war. Ebenso nahm Hasard an, daß er nicht allein in dem Boot gewesen war.
„Im Augenblick kann ich nicht viel für ihn tun“, sagte der Kutscher bedauernd. „Er muß erst langsam an Wasser und Nahrung gewöhnt werden, sonst übersteht er es nicht und stirbt uns unter den Händen.“
Mac Pellew latschte mit einem Gesicht, als sei er selbst der bedauernswerte Schiffbrüchige, zur Kombüse und holte frisches Wasser.
Wieder wurden Gesicht und Lippen tropfenweise benetzt. Der Geuse öffnete die aufgequollenen Lippen einen Spaltbreit. Als er unbewußt zu schlucken versuchte, durchlief ein Zittern seinen Körper.
Der Kutscher drehte den Mann vorsichtig auf die Seite, damit er an den Wassertropfen nicht erstickte. Das Zittern hörte auf. Dafür waren ein paar unverständlich gemurmelte Worte zu hören, als spräche der Geuse zu sich selbst.
„Etwas verstanden?“ fragte der Seewolf die beiden Holländer. Fast alle Mannen konnten sich in der holländischen Sprache verständigen, aber Jan und Piet war sie angeboren.
„Kein Wort verstanden“, sagte Jan, und auch Piet schüttelte den Kopf. „Es ist Gestammel und absolut unverständlich. Ich glaube, einmal den Vornamen Joop verstanden zu haben, aber ganz sicher ist das nicht. Kann auch etwas anderes bedeutet haben.“
Der Kutscher war darauf bedacht, den Geusen immer im Schatten zu halten, damit ihn die grellen Sonnenstrahlen nicht trafen. Hasard ließ gleich darauf ein Stück Segeltuch spannen und den Mann auf die Gräting bringen.
Das ständige Benetzen mit Trinkwasser zeigte nach einer Weile den ersten schwachen Erfolg.
Der Geuse bewegte langsam den Oberkörper. Die halbgeschlossenen Augen öffneten sich, aber der Blick war immer noch verschleiert. Der Mann hatte nicht die geringste Ahnung, wo er sich befand.
Dann murmelte er wieder mit heiserer Stimme Worte.
Die Männer traten neugierig näher heran. Aber noch ergaben die Worte keinen Sinn.
Flimmernde Hitze, ewiges Auf und Ab – und der entsetzliche Durst, der jeden Gedanken auslöschte.
Zu zweit waren sie in der Nußschale, irgendwo mitten auf der See, und das Martyrium nahm kein Ende.
Rijk de Rijkers hieß der eine, Jopp van Laak der andere.
Den anderen sah Rijk de Rijkers immer nur als dunstigen Schemen, der mal größer wurde und dann wieder zusammenschrumpfte, als würde die gnadenlose Sonne ihn wie Dunst in sich aufsaugen.
Rijk de Rijkers Sinne waren umnebelt. Er war sich nicht sicher, ob Joop noch in dem Boot saß, oder ob er nur ein Hirngespinst sah.
Himmel und Meer waren eins, ganz ineinander verschmolzen. Die Sonne füllte das gesamte Firmament aus und hing wie ein nie verlöschendes, ewig glosendes Riesenauge über ihnen.
Das Wasserfaß war schon lange leer, so lange er überhaupt denken konnte. Es mußte schon vor Jahrhunderten ausgetrocknet sein.
In seinem Schädel summte und rumorte es. Mal hatte er lichte Augenblicke, das glaubte er jedenfalls, und dann sah er Joop van Laak überdeutlich im Boot sitzen.
Sie unterhielten sich im Flüsterton miteinander, doch dann verschwand Joop ganz plötzlich, und er war allein in der kleinen Jolle.
Meist kehrte Joop dann erst am späten Abend zurück, wenn die Sonne dicht über der Kimm stand und die entsetzliche Hitze nicht mehr so gewaltig war.
Auf und ab, immer und ewig. Es würde nie enden, so wie diese riesige Wüste aus salzigem Wasser nie enden würde.
Traum und Wirklichkeit vermischten sich unentwirrbar. Sein Geist löste sich immer mehr aus dieser höllischen Welt und drang in friedliche und paradiesische Sphären vor.
Manchmal schlief er ein, und wenn er dann wieder erwachte, bestand die Welt nur aus einem gewaltigen Feuerstrahl, der alles mit lodernden Flammen versengte.
Einmal saß er im Heck der Jolle, dann wieder fand er sich zwischen den Duchten wieder und wunderte sich darüber. Auch sein Kamerad wechselte öfter den Platz, aber meist verschwand er ganz.
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