Impressum
© 1976/2015 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
ISBN: 978-3-95439-467-8
Internet: www.vpm.deund E-Mail: info@vpm.de
Kapitel 1.
Kapitel 2.
Kapitel 3.
Kapitel 4.
Kapitel 5.
Kapitel 6.
Kapitel 7.
Kapitel 8.
Kapitel 9.
Kapitel 10.
Der Sturmwind, auflandig und von staubfeinem Nieselregen begleitet, grub sich in Pinho Brancates Bartgeflecht und zerrte daran. Er schien diesem rauschenden Vollbart und dem ganzen wuchtigen Mann mit den breiten Schultern den Kampf angesagt zu haben. Der aber ließ sich nicht umwerfen, nicht einmal aus dem Gleichgewicht bringen. Wie eine aus dem Gestein der wilden Küstenlandschaft gehauene Statue stand Pinho da, breitbeinig und mit vor der Brust verschränkten Armen.
Unbewegt war seine Miene, und er schien sich der Anwesenheit seiner Frau Emilia nicht bewußt zu sein. Sie hatte neben ihm auf den schroffen Klippfelsen verharrt. Der Wind heulte und zerzauste ihre schwarzen Haare.
Schweigend blickten sie eine Weile auf den schäumenden Atlantik. Das Bild der aufsteigenden und gischtend gegen die Felsen anspringenden Wogen drohte jede Minute in der herabsinkenden Dunkelheit zu verschwinden.
Jenen schwärzlichen Widerstand draußen im Wasser, nur eine Viertelmeile von der Küste entfernt, der für die Brancates von so großer Bedeutung war, konnte man bereits nicht mehr erkennen.
Ohne den Kopf zu wenden sagte Pinho Brancate: „Wenn der Wind in dieser Nacht auch nur ein einziges Schiff weit genug auf Legerwall drückt, gibt es endlich wieder Arbeit für uns.“
„Es wird höchste Zeit“, entgegnete Emilia, eine verblühte herbe Schönheit aus der Serra da Guardunha, mit Würde. „Unsere Vorräte sind fast aufgebraucht, und in dem ausgehöhlten Ziegelstein, den wir als Versteck für unsere bescheidenen Besitztümer benutzen, befindet sich kein einziger Piaster mehr.“
„Das Riff läßt uns nicht im Stich, Emilia.“
„Die hungrigen Mägen wollen zu essen haben.“
„Laß mich nur machen“, erwiderte der große, bärenstarke Mann. „Mich und meine beiden Söhne.“
„Gott schicke uns ein Schiff“, äußerte Emilia ihren frommsten Wunsch.
„Dessen Mannschaft wir retten können“, murmelte Pinho, und seine Frau fügte sofort hinzu: „Dessen Ladung wir bergen können.“
Der Sturmwind dauerte an, nahm an Stärke zu und beugte die Wipfel der Pinien und Zypressen, die weiter landeinwärts standen. Pinho Brancate schritt aufrecht von den Klippfelsen zu dem eine halbe Meile entfernt stehenden Steinhaus zurück. Seine Frau hielt sich an seinem Arm fest, um nicht doch noch umgerissen zu werden. Pinho sah zu dem einsamen Licht, das nun in der Dunkelheit erschien und ihnen den Weg nach Hause wies.
Dort, in dem roh aus Granitgestein und primitiven Schindeln zusammengefügten Haus, erwartete sie der Rest der Familie. Charutao, mit seinen vierundzwanzig Jahren der älteste Sohn Pinhos und Emilias. Iporá, der nur ein Jahr jünger war als sein Bruder. Die Mädchen Josea, zwanzig Jahre, Segura, siebzehn, sowie die dreizehnjährige Franca. Schließlich noch die Abuela, die Großmutter, wie alle sie nannten – Pinhos Mutter, von der keiner mehr genau wußte, wie alt sie wirklich war.
Pinho dachte an seine große Familie und sagte: „Die ganze Nacht über werden wir auf dem Posten sein, Emilia.“
„Ja, dies ist eine zu wichtige Nacht für uns. Keiner von uns kann es sich erlauben, die Zeit mit Schlafen zu vergeuden.“
„Auch die Mädchen erhalten ihre Aufgabe.“
„Vergiß nicht die kleine Bucht im Süden, Pinho.“
„Segura und Franca sollen dort Wache halten“, beschloß Pinho Brancate, der bei sich zu Hause uneingeschränkte Befehlsgewalt genoß wie ein Kapitän an Bord eines Segelschiffes. „Falls irgendein Fahrzeug in die Bucht verholt, melden sie es uns – und wir sehen dann zu, daß wir das Beste für uns herausholen.“
Sie sahen sich an. Pinho schnitt eine Grimasse, zog dann die ziemlich füllige Frau mit den kräftigen Hüften zu sich heran und hob sie ein Stück hoch. Emilia strampelte mit den Beinen. Er ließ sie wieder zu Boden, sie lachten beide und legten schneller schreitend das letzte Stück Weg zurück, das sie noch von dem Haus trennte.
Jeder Fremde mußte bei seiner Ankunft vor dem Haus bestätigen, daß es weitaus größer war, als man von weitem den Eindruck hatte. Es konnte noch viel mehr Menschen ein Dach über dem Kopf bieten als denen, die bereits darin wohnten.
Und so unterhielt Pinho Brancate sein Heim als eine Art Herberge in einem Landstrich einer der ungastlichsten Gegenden Portugals, die nur selten von einem Reiter oder Wanderer besucht wurde. Hätte Pinhos die Seinen in dieser Umwelt tatsächlich unterhalten sollen, so wäre die ganze Familie inzwischen längst eines bitteren Hungertodes gestorben.
Die niedrige Eingangstür knarrte leicht in ihren eisernen Angeln, als sie von innen geöffnet wurde.
Die Gestalt eines schlanken, von einer durchaus nicht geizigen Natur reif ausgestatteten Mädchens erschien vor dem Licht, das im Inneren des Hauses flackerte.
„Josea!“ rief Pinho Brancate. „Wir sind wieder da!“
„Ist es schon soweit?“ fragte das Mädchen.
„Nein, aber mit ein wenig Glück kriegen wir heute nacht noch alle Hände voll zu tun“, sagte Emilia zuversichtlich.
Nordwärts segelte der stattliche Fünferverband portugiesischer und spanischer Schiffe, der an diesem Abend die Felsenküste passierte. Er bestand aus einer Viermast-Galeone, zwei Galeonen mit je drei Masten und zwei lateinergetakelten Karavellen, die jeweils zwei Masten führten: „Candia“, „Sao Sirio“, „Sao Joao“, „Extremadura“ und „Santa Angela“.
Nordwärts segelte die „Candia“ schon seit geraumer Zeit, denn sie hatte in der Walfischbucht im fernen Südafrika den Kommandanten Lucio do Velho und dessen Bootsmann Ignazio, der aus Porto gebürtig war, aufgelesen.
Kurs nach Lissabon hatte die stattliche Viermast-Galeone seither eingeschlagen. Do Velho hatte das Schiff, das man ihm in Manila übergeben hatte, ohne Rücksicht auf Verluste vorangetrieben und keine zeitraubenden Reisepausen eingelegt.
Das Ergebnis war gewesen, daß ein Teil der Mannschaft vom Skorbut dahingerafft worden war. Do Velho war der Ansicht, daß ein solches Opfer selbstverständlich war – falls es nicht auf seine ganz persönlichen Kosten ging.
Er selbst war ja dem Tod mit knapper Not entronnen, ebenso Ignazio – beide waren dem Teufel sozusagen von der Schippe gesprungen. Es war ein regelrechtes Wunder, daß sie ausgerechnet im Land der Buschmänner doch noch mit heiler Haut davongekommen waren.
Entsprechend hatten sich die hochdekorierten Almirantes und Comodoros ausgedrückt, denen Lucio do Velho in Lissabon seinen Bericht erstattet hatte. Do Velho war nun ein „Milagrolado“, ein vom Wunder Heimgesuchter.
Ignazio wurde dieser Ruhm nicht zuteil, denn do Velho hatte rechtzeitig darauf hingewiesen, daß der etwas einfältige Mann natürlich nur noch am Leben war, weil er, do Velho, sich für ihn eingesetzt hatte. Die Realität sah etwas anders aus. Aber die lag weit hinter ihnen im tiefsten Afrika.
Die hohe Admiralität konnte do Velho nachempfinden, was er durchgestanden hatte, als er diesen verfluchten Engländer Philip Hasard Killigrew gehetzt hatte. Anschaulich hatte do Velho, der ein geborener Mime war, dargestellt, daß er den Seewolf schon in der Bengkalis-Bucht hätte stellen und vernichten können – wenn nicht ein unvorhersehbarer Fall „höherer Gewalt“ eingetreten wäre.
Und so war es dann immer wieder ein böser Zufall, ein peinliches Zusammentreffen von Unglück und Naturereignissen gewesen, das Lucio do Velho den Triumph vorenthalten hatte.
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