Impressum
© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
ISBN: 978-3-95439-523-1
Internet: www.vpm.deund E-Mail: info@vpm.de
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
„Hernán Cortés“ – die verschnörkelten, vormals so stolzen Lettern, die den Namen des Entdeckers und Eroberers von Neuspanien bildeten, waren jetzt angekratzt und lädiert wie der verblassende Ruhm jenes Mannes. Die ersten drei Buchstaben des Vornamens am Heck des Schiffes waren kaum noch zu lesen, und dem „Cortés“ fehlte das „s“ am Ende bereits zu einem so großen Teil, daß auch dieses nicht mehr zu entziffern war. Nicht besser war es um die gleichen Schriftzüge bestellt, die den Backbord- und Steuerbordbug der dreimastigen Galeone zierten.
Doch wenn es nur das gewesen wäre!
Die einst vollgetakelte Galeone verfügte jetzt nur noch über das Großsegel und die Fock, aber auch die wiesen große Löcher und Risse auf. Alle anderen Segel, auch die Blinde, waren durch heftige Stürme vernichtet worden. Und dieser Rest von Rigg bot einen so erbärmlichen Anblick, daß jedem Seemann dabei klamm ums Herz werden mußte. Das laufende und stehende Gut befand sich in einem heillosen Durcheinander, es hätte dringend klariert werden müssen. Schier unentwirrbar hing es an Deck hinunter. Der frische Wind aus Nordosten sang in den Pardunen, den Schoten, Brassen und Fallen, und die Blöcke und Rahen stimmten eine knarrende Begleitung zu dem leisen, höhnischen Lied an.
Der Rumpf des Schiffes war ebenfalls ramponiert und wies hier und da Lecks auf, die niemand mehr vollständig zu reparieren imstande war.
Denn die Mannschaft war arg dezimiert. Nur noch fünf Männer befanden sich an Bord, und von diesen hatte einer die Augen für alle Ewigkeit geschlossen. Vor knapp einer Stunde war sein letzter schwacher Lebensfunke erloschen.
Ein wahres Bild des Jammers war diese „Hernán Cortés“ also, ein Schiff, das nur ein Phantast noch als seetüchtig zu bezeichnen gewagt hätte. Ein dahingleitendes Wrack, dessen elender Anblick in diesem Moment nur durch die Schönheit der Insel gemildert wurde.
Mitten in die Bucht dieser Insel trieb die „Hernán Cortés“. Die Bucht schloß sich langsam mit ihrem Ufer um sie, griff nach ihr, schien ein Auffangbecken und die endgültige Stätte der Ruhe für sie zu sein.
Offenbar war es die ausgleichende Gerechtigkeit der Natur, die hier ihre Hand im Spiel hatte. Auf der einen Seite standen auf dem Deck des Schiffes die Überlebenden eines höllischen Törns, denen das Grauen unauslöschlich in die Gesichter geprägt war. Auf der anderen Seite lächelte das zauberhafte Antlitz eines himmlischen Paradieses auf Erden.
Langgestreckt zog sich die Bucht dahin, über dem Saum ihres geschwungenen weißen Sandstrandes wiegten sich die Wipfel von Palmen im Wind. Ein Dufthauch und eine Aura des Friedens schienen diesem Platz anzuhaften. Von kristallener Klarheit war das Wasser, in dem man Fische und anderes Meeresgetier mit bloßem Auge erkennen konnte. Eine milde Brandung leckte mit verhaltenem Rauschen gegen das Ufer.
Keine Untiefen gab es in dieser Bucht, keine tückischen Riffe und keine einzige Sandbank, die der Fahrt der „Hernán Cortés“ ein jähes Ende bereiten konnten. Hier öffnete sich ein natürlicher Hafen, in dem zwanzig, dreißig oder noch mehr Segelschiffe dieser Größe Platz finden konnten.
Eine Stätte der Beschaulichkeit, doch auf dem Schiff lauerte immer noch das Verderben.
Die drei Männer auf der Kuhl – Serafin, Joaquin und Domingo – hatten ihr trauriges Werk soeben beendet. Sie hatten den Leichnam ihres Kameraden Esteban in weißes Segeltuch eingenäht. Jetzt bückten sie sich, hievten den schlaffen Körper ein wenig hoch und betteten ihn auf eine große Planke. Sie hoben die Bahre mit dem Toten auf und trugen sie langsam zum Steuerbordschanzkleid. Es bereitete ihnen Mühe. Ihre letzten Kräfte drohten sie jeden Augenblick zu verlassen.
Als sie die Kante der Planke, auf der die Füße des Toten ruhten, auf der Handleiste des Schanzkleides absetzten und verhielten, sagte Serafin: „Wartet hier auf mich.“ Er ließ die Planke los und wandte sich ab, ein großer, von den gnadenlosen Härten der langen Reise gebeugter Mann mit dichtem, schwarzem Bart.
Joaquin blickte ihn aus seinen wie im Fieber geweiteten Augen an. „Madre de Dios, wohin willst du denn – ausgerechnet jetzt?“
„Ich will ihn holen.“
„Ihn?“ Domingos Züge verzerrten sich zu einer haßerfüllten Grimasse. „Verflucht soll er sein. Die Hölle soll ihn verschlingen. Er hat hier nichts zu suchen.“
„Doch“, sagte Serafin erstaunlich ruhig. „Er wird das letzte Gebet für den armen Esteban sprechen. Es ist seine Pflicht als Kapitän dieses Schiffes.“
„Der Capitán.“ Joaquin sprach das Wort voll Verachtung aus. „Ich sage, wir brauchen ihn nicht mehr. Wir können auf ihn verzichten. Er ist weder in der Lage, sinnvolle Befehle zu erteilen noch Gebete aufzusagen. Der Wahnsinn hat seinen Geist umnachtet.“
„Nicht ganz“, erwiderte Serafin, der noch über die meisten Energien verfügte. „Oder vielleicht tut er auch nur so, als sei er nicht mehr bei Verstand. Das würde ihm die Verantwortung abnehmen und wäre allzu bequem.“
Er wandte sich um, ging über die verschmutzten Planken der Kuhl auf das Achterdecksschott zu, öffnete es und betrat den düsteren Gang, der vor die Tür der Kapitänskammer führte. Dicht vor dem Allerheiligsten von Don Mariano José de Larra verharrte er einen Atemzug lang, dann stieß er die Tür auf, ohne vorher anzuklopfen.
Das Pult des Kapitäns war eine gewichtige Konstruktion aus massivem Nußbaumholz, mit vielen Intarsien und gedrechselten Beinen. Es beherrschte das Zentrum der Kammer, der Blick jedes Eintretenden mußte unweigerlich von ihm angezogen werden.
Don Mariano saß hinter dem Pult – wie Serafin es nicht anders erwartet hatte. Eben noch hatte der Kapitän sich tief über seine Aufzeichnungen gebeugt, jetzt aber sah er jäh auf und fixierte den Eindringling feindselig und zurechtweisend.
Serfain ließ die Tür offenstehen.
Langsam näherte er sich dem Pult. Er wich Don Marianos Blick nicht aus, sondern begegnete ihm ohne Furcht.
Der Kapitän war ein hagerer, nicht übermäßig großer Mann Ende der Vierzig, mit scharfgeschnittenen, adlerhaften Zügen. Sein Haupthaar hatte er auf See völlig eingebüßt. Es hatte sich, wie Serafin wußte, bei ihm bereits mit zweiunddreißig, dreiunddreißig Jahren fast völlig gelichtet. An heißen Tagen verzichtete Don Mariano auf seine Perücke, weil er sie als unerträglich, ja unästhetisch empfand. So hatte er sie auch an diesem Morgen nicht angelegt. Aber auch ohne sie büßte er nichts von seinem respekteinflößenden Äußeren ein. Er war immer noch eine Autoritätsperson.
Doch Serafin hatte die Kammer unter dem festen Vorsatz betreten, diese Autorität zu brechen und in die Knie zu zwingen. Jetzt und hier.
Don Mariano José de Larras Augen glänzten ein wenig, aber es war nichts Flackerndes in seinem Blick. Nur seine Mundwinkel zuckten leicht. Wieder, wie so oft während der letzten Tage, fragte Serafin sich, ob er wirklich schwachsinnig geworden oder doch noch im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte war.
„Was fällt dir ein, einfach so einzutreten?“ fuhr Don Mariano ihn an. Seine Stimme klang brüchig nach all den Entbehrungen, aber sie hatte nichts von ihrer Kälte verloren. „Du weißt genau, daß das nicht einmal einem Offizier dieses Schiffes zusteht, geschweige denn einem Decksmann.“
„Es gibt keine Offiziere mehr“, sagte Serafin. „Und die Chusma, das gemeine Schiffsvolk, wie Sie es nennen, ist auf drei Mann zusammengeschrumpft. Es ist sinnlos, noch Ordnung und Disziplin aufrechterhalten zu wollen.“
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