Fred McMason - Seewölfe - Piraten der Weltmeere 330

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Der Morgen des 6. Juni 1593 zog mit idealen Wetterbedingungen herauf. Ein handiger Wind aus Nordosten kräuselte die Wasseroberfläche vor Rame Head und trieb Schaumkronen in einem Parallelmuster auf das Meer hinaus. Die Wolkendecke war aufgelockert, gelegentlich lugte die Sonne mit wärmenden frühsommerlichen Strahlen auf die südenglische Küstenlandschaft nieder – und auf die sechs Schiffe, deren Kapitäne und Mannschaften entschlossen waren, England den Rücken zu kehren. Über Backbordbug segelnd, gingen sie auf Südwestkurs – voran die «Isabella IX.», gefolgt von der «Wappen von Kolberg», den beiden Viermastern «Roter Drache» und «Eiliger Drache über den Wassern» sowie den beiden Neubauten, der «Le Vengeur III.» und der «Tortuga». Ihr Ziel war die Karibik – aber schon bei der Mount's Bay lauerte ein Feind…

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Impressum

© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-727-3

Internet: www.vpm.deund E-Mail: info@vpm.de

Fred McMason

Aufbruch in die Karibik

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Nathaniel Plymson schwitzte. Er nahm das feuchte Spültuch vom Tresen, lüftete die Lockenperücke, wischte sich den Schweiß von Stirn und Schädel und genehmigte sich einen ausgiebigen Schluck Bier, der ihm innerliche Kühlung verschaffte. Mit einem Laut des Wohlbehagens setzte er den Krug ab und wischte sich den Schaum von den Lippen.

Es war weit nach Mitternacht. Die letzten Saufbolde hatten den Schankraum der „Bloody Mary“ verlassen. Watschelnd schleppte Plymson seine Leibesfülle zur Tür. Tief atmete er die frische Nachtluft ein, die nun endgültig den letzten Schweiß von seinem feisten Gesicht löschte. Er schloß die beiden Fensterläden, legte die Eisenstangen vor und begab sich zurück zum Eingang seiner Schenke.

Das Geräusch von Schritten hörte er nicht. Nur die plötzliche Bewegung hinter seinem Rücken spürte er. Eisiger Schreck durchzuckte ihn, und er warf sich herum, so schnell es sein Körpergewicht erlaubte.

Die Gestalten waren wie aus dem Nichts aufgetaucht, von der Schwärze der Nacht ausgespuckt, und ihre Mienen verhießen nichts Gutes. Drei Kerle von der Sorte, der ein anständiger Bürger selbst bei hellem Tageslicht tunlichst aus dem Weg ging.

Plymson sah ihr höhnisches Grinsen und ihre funkelnden Blicke, die ihn als sicheres Opfer geringschätzig abtasteten. Entsetzt hob er die Arme und wich mit unsicheren Schritten bis zur Tür zurück. Erst jetzt bemerkte er einen vierten Mann, der am Rand jenes schwachen Lichtkreises stand, der von der Laterne über dem Eingang der „Bloody Mary“ ausgestrahlt wurde. Die Kleidung dieses Mannes war wie gelackt, sein vornehmes Gesicht gepudert. Rein äußerlich trennten ihn Welten von den drei Galgenstricken.

„Was wollt ihr von mir?“ keuchte Plymson. „Die Schenke ist geschlossen. Aber wenn es unbedingt sein muß, kann ich eine Ausnahme machen und …“

„Halt ’s Maul, Dicker“, sagte einer der Kerle, ein schwarzbärtiger Riese mit ausladenden Schultern.

„Du redest sowieso zuviel“, sagte der zweite grinsend, ein rothaariger Schrank, dessen Gesicht aus Narben und Sommersprossen bestand.

„Dafür bist du bekannt, Fettsack“, fügte der dritte hinzu. Er hatte ein verschlagenes langes Gesicht und eine schwarze Mähne bis auf die Schultern. „Du wirst jetzt die Klappe halten. In deinen Dreckstall wollen wir nicht. Wir unternehmen zusammen einen kleinen Spaziergang, kapiert?“

Nathaniel Plymson erschrak von neuem. Erst jetzt wurde ihm bewußt, in welcher Gefahr er schwebte. Um Himmels willen, diese Schlagetots wollten ihn entführen! Und was, in aller Welt hatte der Lackaffe im Hintergrund damit zu tun? Die aufwallende Angst ließ den Schankwirt alle Beherrschung vergessen.

„Nein!“ schrie er schrill und streckte die Arme aus, als könnte er die Kerle damit von sich fernhalten. „Hilfe! Zu Hilfe! So helft mir …“

Ein Knüppel wirbelte plötzlich durch die Luft, und der trockene Schlag ließ Plymsons Stimme in einem Gurgeln ersterben. Der Schwarzbärtige ließ den Knüppel unter seinem zerlumpten Umhang verschwinden, während seine Kumpane den bewußtlosen Plymson packten, bevor er zu Boden sinken konnte.

„Beeilt euch!“ zischte der elegant gekleidete Mann. Sichernd sah er sich nach allen Seiten um. Aber nirgendwo war eine Menschenseele zu erblicken. Auch auf den Schiffen in der nachtdunklen Mill Bay war längst Ruhe eingekehrt.

„Ob die ihn tothauen, Leslie?“

„Glaube ich nicht, Jamie. Das hätten sie doch gleich hier erledigt.“

„Hm. Kann sein. Ist ja ziemlich anstrengend, den Dicken durch die Gegend zu schleifen.“

„Genau. Und wenn sie sich so anstrengen, dann haben sie bestimmt noch was mit ihm vor.“

Die beiden Jungen kicherten leise hinter der hohlen Hand. Sie kauerten zwischen leeren Trinkwasserfässern und Proviantkisten am Kai und beobachteten, was sich drüben vor dem Eingang der „Bloody Mary“ abspielte. Leslie und Jamie wußten, daß sie sich von der Stadtgarde nicht erwischen lassen durften. Zu so später Stunde hatten sie auf der Straße nichts mehr verloren. Aber das Zuhause, das ihnen Wärme und Geborgenheit gegeben hätte, existierte nicht.

Die beiden halbwüchsigen Jungen hatten so etwas wie eine Interessengemeinschaft gegründet. Ihre Väter waren Tagediebe, die das bißchen Geld, das sie bei Gelegenheitsarbeiten verdienten, sogleich in die nächstbeste Schenke trugen. Und aus Kummer hatten ihre Mütter ebenfalls begonnen, mit Hilfe von billigstem Absinth Vergessen zu suchen.

Nein, wenn es für Leslie und Jamie ein Zuhause gab, dann schon eher die Straße. Und lieber liefen sie dann und wann vor der Stadtgarde davon, als dauernd von betrunkenen Eltern Prügel zu beziehen.

Gespannt beobachteten sie, wie die drei Galgenstricke den bewußtlosen Nathaniel Plymson in die Dunkelheit der St. Mary Street schleiften. Nur undeutlich waren dort die Umrisse einer einspännigen Kutsche zu erkennen.

Der elegant gekleidete Gentleman folgte seinen Schergen mit einigen Schritten Abstand, wobei er sich immer wieder nach allen Seiten umsah. Es kostete die Kerle einige Mühe, den schwergewichtigen Schankwirt in die Kutsche zu verfrachten.

„Was ist?“ zischte Leslie. „Sehen wir uns das an?“

„Klar doch“, antwortete Jamie halblaut, „stell dir vor, wenn wir dem Dicken das Leben retten. Ist doch aufregend, was?“

Leslie schnaufte nur. Sein Freund hatte recht. Ein richtiger Nervenkitzel war das. Aber der dicke Plymson war auch kein schlechter Kerl, obwohl er manches Mal geflucht und sie mit einem Tritt in den Hintern davongescheucht hatte. Doch das war ja auch sein Recht, wenn sie immer wieder aufkreuzten, um auf Pump eine Kanne Bier für die versoffenen Eltern zu holen. Aber Plymson drückte auch oft beide Augen zu, wenn er tage- oder wochenlang auf sein Geld wartete.

Als die Kutsche in der St. Mary Street anrollte, verließen die zerlumpt gekleideten, barfüßigen Jungen ihr Versteck. Lautlos nahmen sie die Verfolgung auf. Sie kannten jeden Winkel im Hafengebiet von Plymouth, und so war es ihnen ein leichtes, immer wieder dann in eine Mauernische oder einen Torweg zu schlüpfen, wenn der elegante Gentleman, der neben einem der Galgenstricke auf dem Kutschbock saß, einen besorgten Blick nach hinten warf.

Die Fahrt dauerte nicht sehr lange. Am nordwestlichen Stadtrand hielt die Kutsche auf dem düsteren Grundstück eines ehemaligen Sägewerks.

Plymson war wieder bei Bewußtsein, als sie ihn in einen halbwegs intakten Schuppen bugsierten. Aber er riskierte nicht, den Mund zu öffnen. Vielleicht begriff er auch, daß es hier, in dieser menschenleeren Gegend, ohnehin keinen Sinn hatte, zu schreien.

Vorsichtig pirschten sich Leslie und Jamie auf dem von Gerümpel übersäten Gelände voran. Dabei schlugen sie einen weiten Bogen, um die Rückseite des Schuppens zu erreichen. Denn wenn das Kutschpferd rebellisch wurde, konnte das für sie gefährlich werden.

Doch es gelang ihnen, unbemerkt bis zu der rissigen Bretterwand vorzudringen. Und dann hielten sie den Atem an. Denn sie konnten jedes Wort verstehen, das drinnen gesprochen wurde.

Plymson schrie auf, als sie ihn in einen Haufen halbvermoderten, feuchten Sägemehls stießen. Aber er wagte nicht, sich wieder aufzurappeln, denn er fürchtete, daß die Galgenstricke sofort von neuem über ihn herfallen würden.

„Reg dich nicht künstlich auf, Dicker“, sagte der Schwarzbärtige glucksend, „weicher konntest du gar nicht fallen. Merkst du nicht, wie gut wir dich behandeln?“

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