Die Bewohner haben häufig kein Interesse mehr an neuen Aktivitäten; es besteht ein Bedürfnis nach Regelmäßigkeit im Tagesablauf. Bekannten Abläufen, der vertrauten Umgebung oder geliebten Dingen wird von der großen Mehrheit der Bewohner der Vorzug gegeben. Teilweise werden Antriebslosigkeit und eine Verminderung von Aggressionen beobachtet. Auch in der räumlichen Umgebung ist eine Veränderung zu sehen: Die Sitzgelegenheiten brauchen mehr Platz, Stühle werden durch Stühle mit Armlehne ersetzt, oft ist die Sitzgelegenheit ein Rollstuhl.
Die Auseinandersetzung mit dem Alternsprozess verläuft bei geistig behinderten Menschen sehr unterschiedlich. Oft wird der eigene körperliche Abbau entweder nicht wahrgenommen oder verleugnet, sodass die Bewohner sich überschätzen und dadurch auch gefährden. Ihr Lebensradius nimmt ab, sie haben weniger Handlungsmöglichkeiten als früher und können manches nicht mehr selbstständig ausführen, die körperlichen Grenzen werden immer enger. Dadurch entsteht Unzufriedenheit, die sich in Ungeduld oder Aggression äußern kann; die Bewohner fordern hartnäckig, dass ihre Bedürfnisse sofort erfüllt werden, alles soll rasch geschehen. Sie erscheinen daher oft eigenwillig und dickköpfig.
Nicht alle Bewohner reagieren jedoch auf diese Weise. Viele können bewusst abgeben und zurückstecken und lernen Defizite zu akzeptieren. Sie haben nur noch wenige und kleine Ziele, die sie erreichen möchten, und wenn ihnen dies nicht gelingen sollte, so ist die Enttäuschung nicht mehr so groß, wie sie früher gewesen wäre. Sie werden gelassener und zeigen Zeichen persönlicher Reifung. In dieser Auseinandersetzung mit dem eigenen Älterwerden und dem enger werdenden Aktionsradius sind keine Unterschiede zur Gesamtbevölkerung zu sehen. Der Umgang mit Verlusten fällt auch vielen Menschen ohne geistige Behinderung sehr schwer, und Ungeduld und Aggressivität sind keine ungewöhnliche Antwort auf erfahrene Einschränkungen.
Das Verhältnis zu Tod und Sterben ist sowohl bei Bewohnern als auch bei Mitarbeitern häufig ambivalent. Viele Bewohner zeigen Angst vor dem Tod, der sich zunehmend auf der Wohngruppe ereignet. Der Tod wird nicht von allen als selbstverständlich angenommen, dies ist nur jenen möglich, die eine religiöse Bindung erfahren haben, die von den Mitarbeitern unterstützt und begleitet werden kann. Trauer wird auf der Gruppe gemeinsam von Mitarbeitern und Bewohnern bewältigt. Der Glaube ist wichtig für die älteren geistig behinderten Menschen, es gibt Sicherheit zu wissen, »wohin man geht, wenn man stirbt.« In dieser Situation weckt die Unsicherheit, ob ein Verbleib auf der Wohngruppe auch bei steigendem Pflegebedarf möglich ist, Ängste, möglicherweise in eine fremde Umgebung wechseln zu müssen.
Die Mitarbeiter beobachten, dass in dieser Lebensphase die Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen zunimmt. Das gehäufte Auftreten von Depressionen oder das Verlassen der Realität und Eintauchen in eine Psychose wird interpretiert als eine Antwort des Bewohners auf einen Mangel an Zuwendung, wenn beispielsweise auf der Gruppe zu viel zu tun und keine Zeit für eine angemessene individuelle Betreuung vorhanden ist. Nach Aussagen der Mitarbeiter kann nicht mehr individuell, sondern nur noch in der Gruppe betreut werden. Die Bewohner jedoch werden durch die wahrgenommenen Verluste »dünnhäutiger«, sie reagieren rascher und intensiver auf Belastungen oder zeigen bei Überforderung überhaupt keine Reaktionen mehr. Als eine sehr große Belastung wird der häufige Personalwechsel empfunden, da auf diese Weise entstandene Beziehungen verloren gehen, und es den Bewohnern immer schwerer fällt, einem neuen, ihnen unbekannten Mitarbeiter zu vertrauen und eine neue Beziehung aufzubauen.
Es gibt keine Grundlage dafür, dass Menschen mit geistiger Behinderung in anderer Weise altern als die Gesamtbevölkerung. Unterschiede sind einerseits auf die körperlichen und kognitiven Einschränkungen zurückzuführen, deren Ursache die geistige Behinderung bildet, andererseits haben ältere Menschen mit geistiger Behinderung ihr Leben meist unter Bedingungen zugebracht, die nicht verglichen werden können mit den Lebensbedingungen der Gesamtbevölkerung.
Alternsprozesse sind normale, d. h. nicht krankhafte Prozesse, die um das 30. Lebensjahr nach Abschluss der körperlichen Entwicklung und Reifung einsetzen; sie zeichnen sich durch ihren irreversiblen Charakter aus und sind nicht umkehrbar. Unterschiede, die sich in der Ausprägung körperlicher Alternsprozesse und im Fortschreiten der Veränderungen zeigen, sind auf familiäre Veranlagung, bestehende Erkrankungen und auf das Ausmaß, in dem das Individuum körperliche Funktionen trainiert und einen gesunden Lebensstil beachtet, zurückzuführen (Ding-Greiner/Lang 2004).
Kognitives Altern ist ein ebenfalls physiologischer Alternsprozess, der sowohl Einbußen als auch Wachstum in einzelnen Leistungskomponenten umfasst. Einbußen zeigen sich bei jenen Funktionen, die an biologische Strukturen gebunden sind und genauso wie andere körperliche Funktionen einen Abbau nach dem 30. Lebensjahr zeigen. Es handelt sich um die Geschwindigkeit, mit der Informationen verarbeitet werden, die Gedächtnisleistung, die Wahrnehmung, die Umstellungsfähigkeit, die Bewältigung neuartiger kognitiver Probleme und die Psychomotorik. Die erfahrungsgebundene Intelligenz zeigt Gewinne durch im Lebenslauf erworbene Fach- und Daseinskompetenzen, das sind Handlungs- und Bewältigungsstrategien, spezifische Wissenssysteme, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die alterskorrelierte Verluste häufig kompensieren können.
Vier Faktoren bestimmen im Wesentlichen den Verlauf von Alternsprozessen:
1. Die genetische Veranlagung bestimmt das Ausmaß an irreversiblen Schäden, die auf Zellalterung zurückzuführen sind, es treten fehlerhafte Stoffwechselprozesse auf, eine Verminderung der Parenchymzellen und dadurch eine verminderte Belastbarkeit der Organsysteme. Zellalterung ist zu verstehen als ein Ruhezustand der Zelle verbunden mit dem Verlust der Teilungsfähigkeit. Sie findet sich in allen Geweben unter physiologischen und pathologischen Bedingungen. Sie bestimmt die Alternsprozesse, welche zur Alterung des Organismus führen und ist die Ursache von chronischen Erkrankungen. Sie spielt in der Entwicklung des Organismus jedoch zusätzlich eine zentrale und positive Rolle, beispielweise bei der Embryogenese, beim Gewebeumbau, bei Verletzungen und Heilungsprozessen sowie bei Krebserkrankungen (Calcinotto, 2019). Das Genom hat einen entscheidenden und zielgerichteten Einfluss auf die biologische Entwicklung etwa bis zum 30. Lebensjahr, es enthält jedoch nach heutigem Kenntnisstand keine spezifischen Instruktionen für das Altern, daher nimmt der Einfluss von Umweltfaktoren auf die Entwicklung im Alter möglicherweise zu.
2. Die Effektivität zellulärer Reparaturmechanismen, die fortlaufend den entstandenen zellulären Schädigungen entgegenwirken, nimmt mit dem Alter ab.
3. Eine den Organismus belastende Umwelt wie beispielsweise schlechte hygienische Verhältnisse, eine defizitäre gesundheitlich-medizinische Versorgung, Mangelernährung oder psychische Belastungen beschleunigen den Verlauf von Alternsprozessen.
4. Das Verhalten des Individuums kann den Alternsprozess beeinflussen. Rauchen, Fehlernährung und Bewegungsmangel können Alternsprozesse beschleunigen, ein gesunder Lebensstil kann ihren Ablauf verlangsamen.
Alternsprozesse verlaufen grundsätzlich bei geistig behinderten Menschen in gleicher Weise wie bei anderen Menschen. Das Ausmaß vorbestehender Schädigungen jedoch, die die Ursache der geistigen Behinderung bilden oder die im Lebenslauf entstanden sind, bestimmen auch das Ausmaß und vor allen Dingen den Verlauf von Alternsprozessen (Ding-Greiner/Kruse 2004).
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