»Es könnte ein fallrelevantes Versäumnis gewesen sein«, bemerkte Chris.
»So weit würde ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht gehen, aber gut. Ihr wisst ja nun, was ihr zu tun habt«, sagte Habich und blickte dabei abwechselnd auf Jasmin und auf Rautner. »Ich möchte eine Liste aller Taxifahrer, die dafür in Frage kommen könnten.«
»Wie sollen wir das denn anstellen?«, überlegte Rautner laut. »Weißt du, wie viele Fahrer es alleine im Landkreis Würzburg und Kitzingen gibt? Und es ist nicht gesagt, dass er hier aus der Region kommt.«
»Gerade hast du von Fallrelevanz gesprochen und nun jammerst du. Auf, auf, wir müssen Versäumnisse aufarbeiten. Außerdem glaube ich kaum, dass jemand aus einer fremden Gegend mit einem Taxi hierherkommt, um ab und zu mal zu morden«, gab Jasmin zu bedenken. »Bei einem solchen Fahrzeug mit auswärtiger Nummer wäre die Gefahr groß aufzufallen und wer steigt schon in ein ortsfremdes Taxi.«
Chris winkte ab. »Du glaubst doch nicht, dass jemand zu solch später Stunde auf das Nummernschild schaut. Da ist jeder froh, wenn er ein Taxi bekommt. Nachts ist das leider immer etwas schwierig und an den Wochenenden erst recht.«
»Sprichst du aus Erfahrung?«
»Ja! Ab und zu nutze ich so etwas auch.«
Der Hauptkommissar wiegte den Kopf hin und her. »Glauben können wir viel, solange wir es nicht wissen, nützt es uns nichts. Den Einwand von Chris, dass der Fahrer nicht von hier stammt, sollten wir nicht ganz von der Hand weisen, da wir im Dunkeln tappen und alles möglich sein kann. Denkt an die Anweisung von Kriminaloberrat Schössler, in alle Richtungen zu ermitteln. Noch ist die Theorie mit dem Taxi eben nur eine Theorie. Warum soll es kein Urlauber sein, der ab und zu mal hierherkommt, oder ein Monteur, der hier zeitlich begrenzte Arbeitseinsätze hat und dann wieder für Jahre verschwindet? Daher vielleicht die großen Zeitabstände zwischen den Morden.« Habich traf eine Entscheidung. »Aber wir konzentrieren uns jetzt zuerst mal auf die Taxis und dabei auf die Bereiche Würzburg und Kitzingen. Sucht die Unternehmer auf, fragt bei den Verbänden nach. Die Behörden wissen, wer alles Taxikonzessionen hat und wer einen Taxischein besitzt. Also ran an die Arbeit.«
In der Güllegrube
Das Haus sowie das gesamte bäuerliche Anwesen in Repperndorf standen seit über zwanzig Jahren leer. Die Alten waren verstorben, die Kinder in alle Winde zerstreut und nicht mehr daran interessiert. Potenzielle Käufer oder Kaufinteressenten hatte es bisher keine gegeben. Jetzt endlich hatte sich ein finanzkräftiger Privatmann gefunden, der das marode Bauernhaus samt Nebengebäude gekauft hatte und sanieren lassen wollte. Noch viel länger als das Anwesen selbst war die Güllegrube nicht mehr in Gebrauch gewesen, nachdem die alten Bauersleute ihre Tiere abgeschafft hatten. Nun sollte sie unter den neuen Besitzern als Wasserzisterne genutzt werden. Ein Spezialunternehmen war beauftragt, die alte, unter dem Hof liegende, etwa 80 Kubikmeter große betonierte Grube zu säubern. Der neue Besitzer wollte damit das Regenwasser von den umliegenden Dachflächen auffangen und als Brauchwasser nutzen. Dazu mussten zuerst die jahrzehntealten Hinterlassenschaften von Mensch und Tier sowie der angeschwemmte Schlick, der sich durch Regen angesammelt hatte, entfernt werden. Das Ganze sollte mit Wasser aufgeweicht und abgesaugt werden. Dazu stieg einer der Arbeiter hinab in die Grube, um das Saugrohr zu bedienen. Wegen des Drecks und möglicher lebensgefährlicher Gase ging dies nur mit entsprechender Schutzausrüstung.
Die Arbeiten hatten kaum begonnen, als man den Mann aus der Grube rufen hörte.
»Schaltet die Pumpe ab! Stoppt die Maschine!«, klang es dumpf unter seiner Atemschutzmaske hervor.
»Was gibt es denn? Warum schreist du so?«, kam die besorgte Nachfrage eines Arbeitskollegen von oben, als der Motor schwieg.
»Verdammt! Oh Scheiße, ich habe was entdeckt.«
»Scheiße!« Der Mann oben lachte. »Natürlich hast du Scheiße entdeckt. Ist ja auch massenweise da unten. Stehst schließlich knietief drin. Du bist mir ein Witzbold.«
»Blödsinn! So meine ich das nicht«, hörte man die aufgeregte Stimme aus der Grube. »Ich … Ich habe etwas anderes …«
»Etwa einen versteckten Schatz?«, rief einer der Arbeiter nach unten.
»Ich glaube … Verflucht, ich glaube … Das ist ein … ein menschlicher Schädel«, hörte man eine aufgeregte und stockende Stimme von unten.
»Was? Bist du sicher? Ist es nicht eher ein Tierkadaver?«
»Nein, nein! Bin mir ziemlich sicher, dass es keiner ist. Da sind noch Haare an dem Schädel.«
»Und wo ist der Rest?«
»Weiß ich nicht. Wahrscheinlich noch im Schlick. Ich bleibe keine Sekunde länger hier unten. Holt mich sofort rauf«, rief er hysterisch.
In Windeseile hatte man das Saugrohr aus der Öffnung entfernt und hievte den Arbeitskollegen wieder ans Tageslicht. Es erschien eine vermummte Gestalt mit Gummistiefeln, wasserdichtem Anzug, Handschuhen und einer Maske auf dem Gesicht. Seine Kleidung war bis zu den Oberschenkeln mit Dreck und Kot verschmiert. Der aufgeweichte Inhalt der Grube stank fürchterlich.
»Wer mag das da unten wohl sein?«
»Keine Ahnung! Ist mir auch ziemlich egal. Puh! Was für ein Schock, ich brauch einen Schnaps.«
»Was machen wir jetzt?«
»Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Polizei zu rufen.«
Zuerst tauchte eine Streifenwagenbesatzung auf. Als man den beiden Gesetzeshütern den Sachverhalt erklärte, informierten sie ihren Vorgesetzten und der wiederum die Staatsanwaltschaft. Diese ordnete die Bergung und gerichtsmedizinische Untersuchung des Leichnams an. Eigentlich war es ja gar keine Leiche mehr, sondern nur noch die Überreste in Form eines Skeletts. Mit Hilfe der Gerätschaft der Firma, die die Reinigung vornehmen sollte, versuchte man die menschlichen Knochen freizulegen. Es dauerte bis zum nächsten Tag, bis alle gefunden waren. Der Fund landete auf dem Tisch von Frau Doktor Wollner.
Hauptkommissar Habich traf die Rechtsmedizinerin am Seziertisch an, auf dem das Skelett aus der Güllegrube lag. Inzwischen hatte Doktor Wollner die Knochen vom Schmutz befreit und so sortiert, dass sie wieder die Form eines menschlichen Körpers darstellten. Mit einer an einem Schwenkarm befestigten großen beleuchteten Lupe begutachtete sie jeden einzelnen der Knochen ganz genau. Habich trat vorsichtig näher, um sie nicht von ihrer Arbeit abzulenken. Trotzdem spürte sie seine Anwesenheit und schaute auf.
»Ach, Sie sind es«, sagte sie locker und richtete sich auf. Die Augen auf die Akten in seiner Hand gerichtet meinte sie schelmisch: »Oh, bringen Sie mir eine ganze Mappe voller gastronomischer Empfehlungen?«
Verlegen lächelnd schüttelte er den Kopf. »Nein, das leider nicht. Es ist eher etwas Arbeit. Aber ich habe Sie nicht vergessen«, beeilte er sich hinzuzufügen, »und wollte Sie für heute Abend einladen.«
Ein warmer, gnädiger Blick trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Fieberhaft überlegte er, wohin er die Pathologin einladen sollte, dann stand sein Entschluss fest. »Darf ich Sie um 19 Uhr abholen oder ist das zu spät?«
»Nein, durchaus nicht. Ich lass mich überraschen, wohin es geht.« Sie nannte ihm ihre Wohnadresse. »So, nun aber zu Ihrem dienstlichen Anliegen.«, Sie zeigte auf die Unterlagen, die Habich immer noch in den Händen hielt. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ach ja, ich habe hier zwei alte Fälle und möchte Sie bitten von der medizinischen Seite her noch mal einen Blick darauf zu werfen. Außerdem möchte ich, dass Sie diese Fälle mit dem aktuellen Fall der toten Tanja Böhmert vergleichen.«
»Vermuten Sie da Zusammenhänge?«
»Genau das möchte ich von Ihnen wissen.«
»Gut, dann werde ich mir die Unterlagen und die Obduktionsberichte in Ruhe anschauen.«
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